Projekte von Brasiliens Landlosenbewegung, die wieder Hoffnung schöpft

Ökologisch besetzen

Die Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST) ist eine der größten sozialen Massenbewegungen in Brasilien und setzt sich für eine radikale Landreform ein. Die Regierung des vormaligen Präsidenten Jair Bolsonaro beschränkte ihre Aktivitäten und setzte in einigen Bundesstaaten die Militärpolizei gegen sie ein. Unter der neuen Regierung kann sich die Bewegung wieder entfalten, auch im Bundesstaat Bahia.
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Josimar Gusmão ist regelmäßig auf der Kaffeefarm seines Bruders im Einsatz. »Auf der einen Seite gibt es hier immer etwas zu tun, auf der anderen Seite ist das Land nach wie vor nur besetzt – kein Eigentum«, sagt Gusmão. Sein Bruder und die anderen Mitglieder des MST hätten noch keine Landtitel. »Präsenz ist daher wichtig, und da helfe ich gern mit«, sagt der kräftige Mann mit dem graumelierten Kurzhaarschnitt lächelnd. Gino nennen ihn alle im Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (Bewegung der Landarbeiter ohne Boden, MST) in der Region Prado, ganz im Süden von Bahia. Der Bundesstaat im Nordosten Brasiliens gehört mit seinen riesigen Plantagen, auf denen Kaffee, Mangos oder Orangen angebaut werden, und den gewaltigen Sojafeldern zu den wichtigen Agrarregionen des größten Lands Lateinamerikas.

Das Gros der Anbauflächen in Bahia gehört Großgrundbesitzern. »Doch wir Kleinbauern sind es, die rund 80 Prozent der Lebensmittel produzieren«, sagt Gino selbstbewusst. Das hinderte die vorige Regierung unter Präsident Jair Bolsonaro nicht daran, die Landlosenbewegung unter Druck zu setzen. »Hier in der Region Prado gab es Angriffe auf MST-Camps und wir befürchteten, von der Militärpolizei geräumt zu werden«, sagt Gino erleichtert lächelnd und rückt die schwarze, eckige Brille zurecht.

Die Landbesetzer wollen so wirtschaften, dass Kleinbauern eine wichtige Rolle zukommt, und treten für Kinder-, Frauen- und LGBT-Rechte sowie, für eine gute Bildung auch in ländlichen Regionen ein.

Zehn Hektar ist die Farm seines Bruders groß, auf der er neben Kaffee Obst, Gemüse und etwas Chili anbaut. Die scharfen Schoten gehen nach São Paulo, in die Industriemetropole Brasiliens, während Bananen, Papayas und Paprika für den lokalen Markt bestimmt sind. »Beim Transport hapert es. Die Straßen sind in der ganzen Gemeinde überaus mies«, klagt Gino und seine Nachbarn stimmen ihm zu.

14 Familien umfasst die MST-Gruppe, der Ginos Bruder angehört. Aus elf Einheiten mit je zehn bis 14 Familien besteht das gesamte »pré-assentamento« bei Prado, die Vorstufe einer künftigen ländlichen Gemeinde. »Egídio Brunetto« nennt sich die Landbesetzung auf der brachliegenden ehemaligen Kaffeeplantage mit über 1 200 Hektar. In deren Mittelpunkt steht die große Lagerhalle, die als Treffpunkt und Veranstaltungsort dient und ein paar Minuten von der Finca der Familie Gusmão entfernt ist.

Familien der erfolgreiche Landbesetzung »Egídio Brunetto«

Gemeinsam feiern. Familien der erfolgreiche Landbesetzung »Egídio Brunetto«

Bild:
Knut Henkel

Dort haben sich ein paar Dutzend MST-Aktivisten versammelt, um die kleine Delegation von Journalisten aus Europa zu empfangen und über ihre Erfahrungen zu berichten. Im oberen Teil der Halle ist eine kleine Holzbühne aufgebaut, auf der zwei kleine Mädchen sitzen. Unter ihnen auf dem Boden sind Papayas, Limonen, Bananen, Ananas, aber auch Paprika, Bohnen und Chilischoten aufgereiht. Für die Dekoration, die ans Erntedankfest erinnert, sind die 120 Familien der Siedlung »Egídio Brunetto« verantwortlich, die zeigen wollen, wie sie mit einfachen Mitteln Nahrung auf den Böden produzieren, die über Jahre brachlagen.

Manoel da Lapa ist derzeit Koordinator der Landbesetzung. Früher war er einer von rund 500 Arbeitern auf der riesigen Kaffeefarm. Sie lieferte Kaffeebohnen der Sorte Robusta für den Weltmarkt, die unter miserablen Arbeitsbedingungen geerntet wurden. »Arbeitsrechte sind systematisch verletzt worden«, sagt da Lapa. Er habe erlebt, dass ein von einer Schlange gebissener Arbeiter nicht umgehend ins Krankenhaus gebracht wurde. »Er hätte sterben können«, sagt er und fährt fort: »Wir wurden von pistoleros permanent eingeschüchtert, es herrschten sklavenähnliche Arbeitsbedingungen.« Er sei froh, nun frei zu sein.

Diese Einschätzung teilt David, ein weiterer ehemaliger Arbeiter. Er ergänzt, dass die Löhne oft erst sehr spät bezahlt worden seien. Dagegen habe kaum jemand aufbegehrt, da die Angst vor den pistoleros zu groß gewesen sei. Den als pistoleros bezeichneten Wachdienst gibt es in Brasilien häufig, Großgrundbesitzer halten sich teilweise regelrechte Privatarmeen – auch auf der ehemaligen Kaffeefarm war rund ein halbes Dutzend pistoleros im Einsatz.

»Sie schraubten nach dem Ende der Kaffeeproduktion 2014 fast alles ab, was nicht niet- und nagelfest war«, erinnert sich da Lapa. Ob im Auftrag der Familie aus São Paulo, der die Plantage gehört, oder für sich selbst, weiß er nicht. Für ihn und die MST-Familien, die nun auf der Farm leben und arbeiten, ist es ein Verbrechen, derart große Flächen brachliegen zu lassen, statt Lebensmittel darauf zu produzieren.

Auch die brasilianische Verfassung besagt in Artikel 186, dass Grund und Boden eine soziale Funktion habe und adäquat genutzt werden müsse. Auf den Artikel beruft sich der MST und besetzt brachliegendes Land mittlerweile landesweit, wenn eine ausreichende Zahl organisierter Familien in der Region vorhanden ist. In Prado ist das der Fall. Der aus Hülsenfrüchten, Chilischoten und Tomaten geformte Schriftzug vor der Bühne ist hier Programm: »Reforma Agrária MST«. Die Agrarreform ist das erklärte Ziel des 1984 gegründeten MST, der bereits seit Mitte der nuller Jahre in 23 der 26 Bundesstaaten sowie im Hauptstadtdistrikt Brasília präsent ist.

In Brasilien ist Experten zufolge die Landkonzentration mitverantwortlich für die stark ausgeprägte Ungleichheit im Land. Der Gini-Koeffizient, ein statistisches Maß für Ungleichverteilung, in Brasilien zählt mit rund 0,53 (Stand 2021) zu den höchsten der Welt, zum Vergleich: In Deutschland lag er 2019 bei rund 0,32. Ein Koeffizient von null bedeutet eine vollkommen gleichmäßige Verteilung von Einkommen oder Vermögen, bei einem Koeffizient von 1 hingegen gehört einer Person das gesamte Einkommen. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung besitzen in Brasilien rund 80 Prozent der Ackerfläche.

Vieles deutet darauf hin, dass die Großgrundbesitzer in den vier Jahren unter dem Präsidenten Jair Bolsonaro weitere öffentliche wie private Flächen erworben haben, oft illegal. Das gute Verhältnis zwischen der Regierung Bolsonaros und der finanzstarken Lobby der Großgrundbesitzer, die dem erzreaktionären Präsidenten zwei Wahlkämpfe maßgeblich mitfinanzierte, dürfte dafür verantwortlich sein. Detaillierte Stu­dien dazu gibt es noch nicht, unstrittig ist jedoch, dass nach vier Jahren unter Bolsonaro rund 55 Prozent der Bevölkerung von Hunger bedroht sind, wie eine Studie aus dem Frühjahr 2022 ermittelte (Jungle World 9/2023). Das sei eine direkte Folge dessen, dass soziale Schutz- und Förderprogramme für kleinbäuerliche Landwirtschaft und bedürftige Bevölkerungsschichten unter Bolsonaro gekürzt oder eingestellt wurden, kritisieren Sozialwissenschaftler und raten zu einer genau entgegengesetzten Politik.

Auch die MST-Koordinatorin Lucineia Durães do Rosário erhofft sich eine solche von der neuen Regierung. Die quirlige Frau mit dem auffälligem Lockenkopf und der rauen, mitreißenden Stimme, die alle nur Liu nennen, gehört zum Führungskreis der Landlosenbewegung in Bahia und lebt im Verwaltungsbezirk Prado. Sie hat die Visite der Journalistengruppe gemeinsam mit der brasilianischen Nichtregierungsorganisation Réporter und dem deutschen Verein Christliche Initiative Romero ermöglicht. »Für uns ist der Regierungswechsel in Brasilia eine überfällige Kehrtwende, für die wir uns engagiert haben«, sagt sie. Davon zeugen die roten Baseballkappen – Rot ist die Farbe des MST – und bestickt mit Parolen für da Silva, die etliche der Aktivisten in der Halle tragen, darunter Manoel da Lapa. Der lokale MST-Koordinator trägt auch ein T-Shirt, das mit der Bewegungsparole »Das Land denen, die es bestellen« bedruckt ist, die für die Landreform und eine Verstaatlichung von Brachland wirbt.

Brasilienweit zählt die Landlosenbewegung rund 1,5 Millionen Mitwirkende beziehungsweise rund 530 000 Familien. Liu Durães do Rosário ist im Movimento Sem Terra groß geworden. »Als Kind haben mich meine Eltern zu den ersten MST-Veranstaltungen mitgenommen«, erinnert sie sich. Dabei habe sie wie die beiden Mädchen vorne auf der Bühne gelernt, die Hymne des MST mitzusingen. Sie habe seitdem an vielen Landbesetzungen mitgewirkt. Eine davon, die vor ein paar Jahren erfolgreich endete, habe ihr zu neun Hektar Land verholfen, die verstaatlicht und an die Aktivistin übergeben wurden und die sie gemeinsam mit ihrem Mann und den beiden Kindern bewirtschafte; der Sohn ist sechs, die Tochter 20 Jahre alt.

»Es ist nicht weit entfernt, nahe der Stadt Prado im gleichnamigen Bezirk«, sagt Liu. Sie ist in den letzten Wochen wieder mehr unterwegs. Das war in den vergangenen vier Jahren anders, denn unter Bolsonaro ging es vor allem darum, zu verteidigen, was der MST aufgebaut hatte. »Wir waren in der Defensive«, erinnert sich Liu. »Unsere nicht weit entfernte agroökologische Schule, wo Bauern aus der Region lernen können, wie sie erfolgreich gesunde Biolebensmittel produzieren, haben wir zur Basis des Widerstands ausgebaut.«

Sie versteht es, Mut zu machen und zu motivieren. Erst Anfang Februar war sie bei der Besetzung der Stadtverwaltung von Santa Cruz Cabrália dabei. »Da haben wir mit MST-Aktivisten aus dem gesamten Verwaltungsbezirk Prado gegen die miese Infrastruktur protestiert, gegen den Mangel an guten Lehrern an den Schulen unserer Kinder, die langen Schulwege und die Ignoranz des zuständigen Bürgermeisters«, erklärt Liu Durães mit kämpferischer Miene. Noch vor ein paar Monaten waren derartige Proteste schwer möglich, der Wahlsieg von Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei (PT) hat auch dem MST Auftrieb gegeben.

Die Landarbeiterbewegung beruft sich auf die brasilianische Ver­fassung, nach der Grund und Boden eine soziale Funktion habe und adäquat genutzt werden müsse.

Die Landlosenbewegung hat sich seit ihrer Gründung kontinuierlich weiterentwickelt, sie tritt für neue ökonomische Konzepte ein, die der etablierten industriellen Landwirtschaft diametral entgegenstehen. Die Landbesetzer wollen agroökologisch so wirtschaften, dass den Kleinbauern eine wichtige Rolle zukommt, treten darüber hinaus für Kinder-, Frauen- und LGBT-Rechte ein, für eine gute Bildung auch in ländlichen Regionen sowie für soziale Gerechtigkeit im Allgemeinen. »Von Beginn an hat der MST Wert auf die Produktion von ­Lebensmitteln in seinen Camps gelegt, heute geht es jedoch nur noch um gesunde Lebensmittel, um Bioprodukte, die wir produzieren und mittlerweile in kleinen Läden anbieten«, schildert Liu den Wandel innerhalb der Organisation.

»Armazém do Campo« heißt die landesweite Kette von kleinen Supermärkten. Liu Durães gehört zu denjenigen aus der MST-Führung in Bahia, die sich dafür aussprachen, einen dieser Märkte im Tourismusort Porto Seguro aufzumachen, kombiniert mit einem Restaurant. »Sichtbarer werden« lautet ihre Devise, und daher kommt ihr und ihren Mitstreitern die achtköpfige Journalistendelegation aus Deutschland, Österreich und Rumänien gelegen. Geduldig gibt sie Interviews und erklärt, warum nach sieben Jahren der Besetzung immer noch auf ein Gerichtsurteil zur Legalisierung gewartet werden muss. »Bis eine Landbesetzung mit der Enteignung der Grundstücke durch die Behörden und der Verteilung von Landtiteln an Familien endet, können 15, auch 20 Jahre vergehen«, sagt Durães auf dem Weg zum Kleinbus.

Schneller gehe es, wenn die staatliche Agrarbehörde INCRA bereits bestätigt hat, dass die betreffende Fläche brachliege, ergänzt sie noch, während der Bus langsam über den von tiefen Furchen durchzogenen Feldweg fährt, der zur agroökologischen Schule »Egídio Brunetto« in Porto Seguro führt. Auch die Schule ist Konsequenz einer erfolgreichen Landbesetzung. Mehrere Tausend davon fanden in den letzten drei Dekaden unter dem Logo des von der katholischen Befreiungstheologie inspirierten MST in Brasilien statt – einige Dutzend in Bahia.

Entsprechend unbeliebt ist der MST bei den brasilianischen Großgrundbesitzern. Die Bewegung stellt deren Selbstverständnis und das agroindustrielle, auf dem Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln basierende Landwirtschaftskonzept in Frage. Das könnte der neuen Regierung zusagen: Präsident da Silva steht als einstiger Gewerkschafter der Landlosenbewegung nahe und hat bereits im Wahlkampf eine stärker ökologisch orientierte Wirtschaftspolitik angekündigt.

Das sind schlechte Nachrichten für die finanziell und politisch starke Lobby der Agrarindustrie. Deren politischer Repräsentant Jair Bolsonaro ist gerade erst aus den USA, wohin er vor der Ernennungszeremonie seines Nachfolgers da Silva Ende Dezember geflüchtet war, nach Brasilien zurückgekehrt. Er dürfte im Parlament fortan für mehr Widerstand gegen Regierungsinitiativen sorgen, die Kleinbauern und Millionen von Agrararbeitern fördern und schützen sollen, die Obst oder Kaffee für den Weltmarkt ernten.

Doch auch ohne die Unterstützung des ehemaligen Präsidenten ist die agrarindustrielle Lobby einflussreich, zumal die Regierung da Silvas sich in beiden Kammern des Kongresses nur auf eine Minderheit von Abgeordneten beziehungsweise Senatoren stützen kann. Deshalb wohl kommt die Regierung der agrarindustriellen Lobby auch entgegen, wie Mitte März, als sie Anbau und Verkauf von gentechnisch verändertem HB4-Weizen gutgeheißen hatte. Zwar wurde die Legalisierung noch von der alten Regierung betrieben, aber die neue Regierung hat sie auch nicht blockiert. Zudem braucht diese die Agrarexporte, um den Haushalt zu konsolidieren und Devisen zu erwirtschaften; das könnte zu politischen Kompromissen nötigen.

Das ist nicht im Interesse von Millionen von Agrararbeitern, die oft unter prekären Bedingungen schuften. Hoher Pestizideinsatz, geringe Löhne und harte Arbeitsbedingungen sind laut Berichten von Nichtregierungsorganisationen wie Réporter üblich in Brasilien. Die neue Umweltministerin Marina Silva hatte angekündigt, dass Brasiliens Wirtschaftsmodell ökologisch verantwortlicher werden solle und ein Ende der Abholzung in der Amazonasregion Priorität habe.

Rektor Felipe Campelo erwartet uns schon vor dem Hauptgebäude der weitläufigen Schulanlage mit neun verschiedenen Abteilungen, darunter Viehhaltung, Kaffee- und Kakaoanbau, aber auch die Produktion von Pfeffer, Bananen und anderen Obstsorten wird gelehrt. »Wir sind eine Forschungs- und Lehreinrichtung von unten. Wir arbeiten mit den Bauern aus der Region, aber auch mit Studenten und mit Dozenten von mehreren Universitäten, um kleinbäuerliche Landwirtschaft ertragreicher und zugleich nachhaltiger zu machen«, erklärt Campelo das Konzept, das neue Erkenntnisse beständig aufnimmt. Dafür sind MST-Kleinbauern aus der Region, aber auch Experten wie Rafael Rangel zuständig. Der Agronom ist spezialisiert auf Agroforstsysteme und koordiniert die Arbeit in den einzelnen Abteilungen der agroökologischen Schule, wo Bauern aus dem Umkreis Fortbildungskurse im Nahrungsmittelanbau belegen können.

Doch Rangel hält auch den Kontakt zur Forschung und hat mehrere Pilotprojekte in der »Egídio Brunetto« initiiert. »Alle gewonnenen Erkenntnisse fließen direkt in unsere Kurse und diese Kombination von Unterricht und Forschung könnte unter der neuen Regierung auch anderswo Schule machen«, hofft Rektor Campelo und hat Mühe, seinen Enthusiasmus zu zügeln, während er Kaffee aus dem eigenen Schulanbau trinkt. Beim MST ist der Optimismus zurück.