China hat Chancen, zum neuen Welthegemon aufzusteigen

Autoritär und innovativ

Die Dynamik der chinesischen Wirtschaft besonders bei der Entwicklung wichtiger Technologien wie der Künstlichen Intelligenz ist einmalig. Auch Wirtschaftskrisen könnten deshalb kaum verhindern, dass China im 21. Jahrhundert zum mächtigsten Staat der Welt aufsteigt.
Disko Von

Der Aufstieg der Volksrepublik China verändert die Welt. Felix Wemheuer zeigte auf, welche unterschiedlichen linken Positionen es zu China gibt (10/2023). Ralf Ruckus argumentierte, Chinas Prägung durch kapitalistische Gewaltverhältnisse müsse Ausgangspunkt linker Kritik sein (11/2023). Michael Heidemann kritisierte die Geringschätzung bürgerlicher Freiheitsrechte bei vielen linken Diskussionen über China (12/2023). Ernst Lohoff warnte, China strebe an, sein illiberales Herrschaftsmodell international durchzusetzen (14/2023). Hauke Neddermann meint, deutsche Linke sollten bei der gegenwärtigen Kritik an China die Rolle des europäischen Koloni­alismus nicht vergessen (15/2023). Tomasz Konicz argumentierte, dass die Diktatur nach dem chinesischen Vorbild die Zukunft des Kapitalismus darstellen könnte (16/2023). Jörn Schulz sah im chinesischen Führungsanspruch eine Bedrohung vor allem der Nachbarstaaten und armen Länder (17/2023).


Die USA sind eine Hegemonialmacht im relativen Niedergang, daran kann kein Zweifel bestehen. Aber wird China sie beerben? Einiges spricht dafür, aber es gibt auch Zweifel. Tomasz Konicz geht in seinem Text »Chaos statt Hegemonie« sogar noch weiter und sieht den Niedergang Chinas als notwendig aufgrund kapitalistischer Krisenzyklen an. Denn bereits im Falle Großbritanniens und der USA habe der Übergang ihrer jeweiligen Ökonomie von der Dominanz der warenproduzierenden Industrie zur Dominanz der Finanzwirtschaft den Niedergang eingeläutet. Von der Werkbank zum Finanzzentrum und dann in die weltpolitische zweite Reihe, so die vermeintliche Reihenfolge. Und für China, so Konicz, habe dieser krisenbedingte Übergang bereits in den vergangenen Jahren begonnen, bevor das Land die Chance hatte, sich als geopolitischer Hegemon zu etablieren.

Argumente gegen die Prognose, dass ein »chinesische Jahrhundert« anstehe, gibt es tatsächlich einige. Die relative Bedeutung industrieller Produktion in China sinkt, eine schwelende Immobilienkrise belastet die Wirtschaft und im Zuge der Belt and Road Initiative (auch bekannt als Neue Seidenstraße) hat sich China weltweit mit Abermilliarden US-Dollar verschuldet. Doch es ist schwer, aus geschichtlichen Abläufen in den wirtschaftlich und politisch sehr ähnlichen Systemen der USA und Großbritanniens eine Gesetzmäßigkeit abzuleiten, die auch für die chinesische Entwicklung gilt.

Bereits jetzt sind die chinesischen Machthaber sichtlich darum bemüht, ihre Rolle in der Weltpolitik neu zu justieren, von ehemals vornehmer Zurückhaltung zu mehr Einflussnahme. 2017 richtete China im ostafrikanischen Djibouti seine erste offizielle Militär­basis im Ausland ein und investiert mittlerweile weltweit in Infrastrukturprojekte. Auch die Versuche, bei internationalen Konflikten wie dem Ukraine-Krieg eine Rolle zu spielen und das Bündnis mit Russland zu vertiefen, sind zu erwähnen.

Wie ernst das Streben nach einer globalen Ausweitung der sogenannten Sinosphäre, also des chinesischen Einflussgebiets, ist, zeigt ein Blick auf den ideologischen Unterbau der chinesischen Ambitionen. Neben einem fast überbordenden Nationalismus, der schon chinesischen Schulkindern beigebracht wird, ist es die vielzitierte Idee des tianxia, die Chinas Außenpolitik leitet. Tianxia heißt wörtlich übersetzt »alles unter dem Himmel« und ist der Name des politischen Konzepts von Zhao Tingyang, einem der derzeit einflussreichsten politischen Philosophen China, der als Ideengeber von Staatspräsident Xi Jinping gilt.

In seinem Werk »Alles unter dem Himmel« geht es Zhao um eine »stabile und auf Vertrauen basierende Koexistenz« der Nationen. Allerdings ist es nicht die vielbeschworene multi­polare Weltordnung, sondern eine Welt unter chinesischer Vorherrschaft, die Zhao vorschwebt, meint Moritz Rudolph in seinem 2021 veröffentlichten Buch »Der Weltgeist als Lachs«. Der Sinologe Ban Wang von der Universität Stanford bescheinigt Zhaos Ideen einen »starken Einfluss auf Popkultur und Staatspo­litik« in China.

Neben diesen Hegemonialambitionen sind es auch Sachzwänge, die das Land dazu treiben, sich weltpolitisch zu engagieren. China kann angesichts des Ressourcenhungers der chinesischen Industrie gar nicht anders, als seinen Einfluss weltweit geltend zu machen, um seine Interessen zu wahren. Denn bei vielen Rohstoffen, unter anderem Öl, ist China auf Importe angewiesen. Und aus großer wirtschaftlicher Bedeutung folgt auch politischer Einfluss, wie sich in der chinesischen Vermittlung zwischen Iran und Saudi-Arabien zeigt, einem der wichtigsten Erdöllieferanten Chinas.

Chinesische Marken sind in Branchen wie Mobilfunk oder der Elektromobilität oft weltweit führend, und sie erobern neue Märkte.

Aber Ambitionen machen noch keine Weltmacht. Es braucht auch soft power, also kulturelle und diplomatische Macht. Da muss China höhere Hürden überwinden. Der Grund liegt unter anderem in der Sprache. Um Chinesisch zu beherrschen, braucht es die Kenntnis von mindestens 2 000 Schriftzeichen, für ein Hochschulstudium sollten es 5 000 sein. Die USA konnten in sprachlicher Hinsicht auf die Vorarbeit des British Empire zurückgreifen. Im 20. Jahrhundert sorgte jedoch nicht zuletzt der Erfolg des US-amerikanischen Wohlstandsversprechens für die Anziehungskraft des liberalen politischen Systems der USA.

Angesichts der hohen Wachstumsraten Chinas in den vergangenen Jahrzehnten ist eine ähnliche Faszination auch für das autoritäre System Chinas zu beobachten, in Entwicklungsländern, aber auch im Westen. Das Fehlen langer Genehmigungsverfahren bei Infrastrukturprojekten – allerdings auch von Mitsprachemöglichkeiten der Bevölkerung –, die lange erfolgreiche Eindämmung der Covid-19-Pandemie samt schneller wirtschaftlicher Erholung und die Entwicklung der Hightech-Produktion in China sind nur die offensichtlichsten Beispiele, die auch in westlichen Ländern anerkennend kommentiert werden.

Wirtschaftlich steht China immer mehr auf eigenen Beinen. Wo früher Joint-Venture-Projekte mit westlichen Unternehmen Wissen ins Land bringen sollten, gibt es heutzutage erfolgreiche eigene Forschung und Entwicklung. Chinesische Marken sind in Branchen wie Mobilfunk oder der Elektromobilität oft weltweit führend, und sie erobern neue Märkte. Ein Anzeichen dafür war kürzlich die Nachricht, dass das chinesische Technologieunternehmen BYD die bisher führende Volkswagen AG als wichtigster Autohersteller in China abgelöst hat; zugleich will BYD auch in den europäischen Markt für Elektroautos expandieren. Die Telekommunikationsausrüster Huawei und ZTE gehören in ihrer Branche zu den Weltmarktführern. Diese Unternehmen dürften dazu beitragen, den Aufstieg der Volksrepublik zum Welthegemon zu fördern.

Einer Studie der Wirtschaftszeitung Nikkei zufolge schicken sich chinesische Forscher und Unternehmen noch in einem weiteren wichtigen Bereich an, die westliche Konkurrenz zu überflügeln: bei der Künstlichen Intelligenz (KI). Demnach seien bereits 2021 nicht nur die meisten, sondern auch die größte Zahl der weltweit am meisten zitierten Forschungspapiere im Bereich KI aus China gekommen. Auch unter den zehn führenden Konzernen, die KI entwickeln, lange eine Domäne, die fast ausschließlich von Sillicon-Valley-Firmen dominiert wurde, hätten sich bereits 2021 schon vier chinesische Firmen befunden: Tencent, Alibaba, Huawei und die State Grid Corporation of China.
Gegner wie Befürworter der Technologie halten KI für die Schlüsseltechnologie der kommenden Dekade.

Dass sich China anschickt, bei der KI-Technologie die Führung zu übernehmen, liegt nicht nur an ambitionierten staatlichen Förderungen und Investitionen, sondern auch daran, dass der chinesische Staat etwas besitzt, das für Unternehmen in den USA und Europa eine umkämpfte Ressource ist: Daten. Konflikte der Zukunft – ob heiß oder kalt, ob militärischer oder wirtschaftlicher Natur – werden datengetrieben sein. In China unterliegen die Daten von 1,4 Milliarden Menschen keinerlei Schutz und stehen für die Entwicklung Künstlicher Intelligenz nach Gusto der KPCh zur Verfügung. Wie diese Daten schon jetzt genutzt werden, zeigt das Social Credit System, in das auch die biometrischen Daten eines Großteils der chinesischen Bevölkerung eingearbeitet sind. Mit dem System sollen »finanzielles, soziales, moralisches und möglicherweise politisches Verhalten der chinesischen Bürger« überwacht und reguliert werden, heißt es in einer Publikation der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2019.

Aber auch private Unternehmen verfügen in China über einen riesigen Datenschatz. Eine durch staatliche Erziehung geförderte »Ich habe ja nichts zu verbergen«-Einstellung stützt wiederum das System der autoritären Führung durch die Partei. KI-gesteuerte Gesichtserkennung ist auch die Basis des Social Credit System. Wer weiß, dass das eigene Gesicht jederzeit und überall erkannt werden kann, hat womöglich wirklich schnell nichts mehr zu verbergen. Die Schere im Kopf schneidet am besten, wenn das Gefühl vorherrscht, selbst die eigenen Gedanken könnten bald gelesen werden. Aber auch im Ausland kann KI China einen Vorteil verschaffen. Sie kann Drohnen ins Ziel bringen, Meinungskampagnen steuern und Finanzsysteme ins Wanken bringen.

Selbst wenn die industrielle Produktion und der Güterexport an Bedeutung verlieren: Chinas Chancen, die nächste globale Hegemonialmacht zu werden, sind gut. Die Kombination aus Technologie, politischer Repression und der schieren Dimension der Bevölkerung und des entsprechenden Binnenmarkts, die in China zum Tragen kommt, ist in keiner Hinsicht mit etwas bisher Dagewesenem zu vergleichen – auch nicht mit der Situation vorangegangener Hegemonialmächte. Was das letztlich für »den Westen« und den Rest der Welt bedeutet, wird erst die Zukunft zeigen.