Kritik an der Filmdoku zu Nan Goldin und ihrer Kampagne P. A. I. N.

»Sacklers lie, people die«

Laura Poitras’ Dokumentarfilm »All the Beauty and the Bloodshed« ist ein eindrucksvolles Künstlerinnen- und Aktivistinnenporträt der US-amerikanischen Fotografin Nan Goldin, das sich jedoch durch Pathos und moralisierende Simplifizierung selbst unterminiert.

Es beginnt mit einer Protestaktion. In jenem Flügel des Metropolitan Museum of Art in New York City, der von der Milliardärsfamilie Sackler gesponsert wurde, versammeln sich Akti­vist:in­nen, unter ihnen die Fotokünstlerin Nan Goldin, vor einem riesigen Brunnen. Während leere Pillenpackungen des Medikaments Oxycontin, das von dem in Familienbesitz befindlichen Pharmaunternehmen vertrieben wurde, ins Wasserbecken geworfen werden, spricht Goldin vor, was die Menge skandiert: »Tempel des Todes«, »Tempel des Geldes«, »Tempel der Gier« – und dann mehrmals »Sacklers lügen, Menschen sterben« (im Englischen schön gereimt: »Sacklers lie, people die«).

Szenenwechsel: ein Haus, das offenkundig als Atelier dient, in einem winterlichen Wald. Drinnen wirft ein Projektor Bilder an die Wand. Gol­dins raue Stimme ist zu hören, diesmal ruhiger. Sie erzählt ihre Lebensgeschichte. Angefangen in den fünfziger Jahren, beim Suizid ihrer acht Jahre älteren Schwester, die ein sexuelles Interesse für Mädchen zu entwickeln begann, rebellisch wurde und sich der »Banalität und dem tödlichen Griff von Suburbia« entziehen wollte, wofür sie mehrmals in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Untermalt wird das Erzählte von Bildern; zuerst Familienfotos, später Goldins künstlerischen Fotografien.

Damit schlägt Laura Poitras’ neuer Dokumentarfilm »All the Beauty and the Bloodshed« gleich zu Beginn einen erzählerischen Bogen von der traumatischen Kindheit Nan Goldins, die später den Blick der Künstlerin auf Verletzungen, Marginalisierung und Stigmatisierung prägen wird, zum Aktivismus gegen das Familienunternehmen, dessen aggressive Vermarktungsstrategie von Schmerzmitteln maßgeblich zur Entstehung der Opioid-Epidemie geführt hat. Was dazwischen geschehen ist, erzählt Poitras in einer außerordentlich fesselnden, Vergangenheit und Gegenwart verbindenden Montage.

Mit seiner auf das Enthüllen der Gesichter zustrebenden Dramaturgie fügt sich der Film der Personalisierung, die dazu tendiert, die Milliardärsfamilie zur alleinigen Schuldigen für jene Hunderttausenden Tode zu erklären, die die Opioidkrise in den USA gefordert hat.

Noch bevor die ersten Fotos das ganze Bild füllen, sieht man Staub im Lichtkegel des Projektors tanzen. Es sei einfacher, sagt Goldin, das eigene Leben in Geschichten zu verpacken, als echte Erinnerungen zu bewahren, denn diese seien schmutzig und hätten kein einfaches Ende. Poitras reflektiert diese Nichtidentität von Erzählung und Erfahrung, indem sie Gol­dins Fotoarbeiten in den Redefluss der Off-Stimme montiert und ihnen zuweilen unkommentierten Raum lässt. Dadurch wuchert ein sinnlicher Überschuss über die Kohärenz der Erzählung; es entsteht im Film jene eingefrorene Unmittelbarkeit, die Goldins Fotografien auszeichnen.

In den siebziger Jahren dokumentiert Goldin den Alltag des Künstlermilieus, einer marginalisierten, aber trotzig-vitalen queeren Gegenkultur, deren Teil sie ist. Sie fotografiert ihre Liebschaften, Männer und Frauen, und ihre Freund:innen, zuerst in Boston und Provincetown, dann in New York City. Dort wohnt sie im berüchtigten Bowery-Viertel und arbeitet in dem Szenelokal »Tin Pan Alley«. Ihre herausragenden Porträts wecken bald das Interesse einer Galerie, sie findet Anschluss an den Kunstmarkt. Alltag und Intimität bilden den Glutkern von Goldins Fotokunst; auch die eigene Sexualität, Gewalterfahrungen sowie Sucht, Tod und Krankheit – insbesondere in der Aids-Krise – finden ihren unverblümten Ausdruck.

Ihre Ausstellungen haben einen Performance-Charakter, der das Intime in eine Gruppenerfahrung transformiert. Goldin präsentiert ihre Arbeiten in Diashows, untermalt von Musik und begleitet vom Beifall oder vom laut artikulierten Missfallen der Abgebildeten. Ihr wichtigstes Werk ist die Fotosammlung »The Ballad of Sexual Dependency« (1983–2022).

Der Film zeigt ihre Bilder, stellt sie aber in den Kontext der Selbsterzählung der Fotografin und erzeugt dadurch eine Aura von Melancholie, die aber nie gänzlich in nostalgische Verklärung abrutscht, sondern auf dem Unterschied von Erzählung und fotografischem Moment besteht.

Der zweite Erzählstrang des Films funktioniert ganz anders. Goldin wurde im Jahr 2014 wie so viele US-Amerikaner:innen abhängig von Oxycontin. Sie bekam das Medikament nach einer Operation verschrieben und nahm es streng nach Anweisung. Die dreijährige Sucht kostete sie fast das Leben. Bereits im Jahr 2007 war – das inzwischen insolvent gegangene Unternehmen – Purdue Pharma zu einer Zahlung einer Strafe von 600 Millionen Dollar verurteilt, weil es über das Sucht- und Missbrauchspotential von Oxycontin falsche Angaben gemacht hatte.

Nan Goldin bei einer Protestaktion

Nan Goldin bei einer Protestaktion am 20. Juli 2018 mit P.A.I.N. im Harvard Art Museum, Obama Foundation

Bild:
022 Participant Film, LLC. Courtesy of Participant

Das Medikament wurde jedoch weiterhin vermarktet. Im Jahr 2018 gründete Goldin die Gruppe P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now) und initiierte fortan Aktionen, die auf das Mäzenatentum der Sacklers zielten. Die Familie hatte sich durch großzügige Spenden an Kunst- und Bildungsinstitutionen einen Namen gemacht. P.A.I.N. griff also insbesondere das »Whitewashing« der Sacklers an. Die Kampagne war erfolgreich; alle namhaften Institutionen kündigten die Zusammenarbeit mit der Familie auf, entfernten deren Namen aus ihren Hallen und nahmen von ihr keine Spenden mehr an.

Die moralische Zerstörung des Namens Sackler wird als eine Art Reinwaschung der Kunstinstitutionen inszeniert. Der Ort der Kunst soll nicht vom gierigen und letztlich mörderischen Geschäft eines verrohten Mil­liardärsclans beschmutzt werden. Diese Feindbestimmung erzeugt bei den Zuschauer:innen das schmeichelhafte Gefühl, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen. Der Film folgt dabei ganz dem Muster der personalisierenden Kritik, das die gesamte Kampagne prägte. So trug ein Kampagnenvideo des linken Senators Bernie Sanders den Titel »Gesichter der Gier«, und ein bahnbrechender Investigativartikel im Magazin Esquire zeigte auf seinem Titelbild eine Familie, deren Gesichter von Oxycontin-Pillen verdeckt sind.

Dieser Logik folgend strebt der Film auf seinen dramatischen Höhepunkt zu: Man sieht Ausschnitte aus einer Videokonferenz, auf der die Familienmitglieder auf einen Gerichtsbeschluss hin mit den Vorwürfen von Kläger:innen konfrontiert werden.

Mit dieser Dramaturgie, die auf das Enthüllen der Gesichter zustrebt, fügt sich der Film der Personalisierung, die dazu tendiert, die Milliardärsfamilie zur alleinigen Schuldigen für jene Hunderttausenden Tode zu erklären, die die Opioidkrise in den USA gefordert hat. Der Fokus auf Gesicht und Namen hat etwas Entlarvendes, ganz so, als bräuchte es für eine solche Krise nur die gewissenlosen Produzenten eines Medikaments und nicht etwa die ganze politökonomische Infrastruktur des US-Gesundheitswesens, die auf Konkurrenz und Profit fußt, mithin auf kapitalistischer Normalität.

Das emotionalisierende Freund-Feind-Schema unterminiert auch die komplexe Politisierung des Privaten und Intimen, die Goldins Werk auszeichnet. Es bietet ein einfaches Ende und taugt bestenfalls für eine bloß moralische Kritik, die die gesellschaftlichen Verhältnisse eher verschleiert, als sie transparent zu machen. Und wie schnell man von dort beim blanken Ressentiment ist, belegt zuverlässig das deutsche Feuilleton, wenn beispielsweise die Süddeutsche Zeitung fabuliert: »Die steinernen, teigigen, stinkreichen und seelenlosen Gesichter in diesem Zoom-Call, die Poitras da eingefangen hat, das wird man so schnell nicht mehr vergessen.« Wenn deutsche Zeitungen mit solcher Furor-Wonne über eine jüdische US-Milliardärsfamilie schreiben, dann sollten zumindest ein paar Alarmlämpchen aufleuchten und die Frage gestellt werden, ob das nicht vielleicht alles etwas zu simpel ist.

All the Beauty and the Bloodshed (USA 2022). Kamera und Regie: Laura Poitras. Filmstart: 25. Mai