Wahlsieger Erdoğan kann seine autoritäre Herrschaft der Türkei weiter festigen

Rechte Hegemonie

Nach seinem Sieg in der Stichwahl kann Präsident Recep Tayyip Erdoğan die autoritäre Formierung der Türkei fortsetzen. Die Hinwendung seines Kontrahenten Kemal Kılıçdaroğlu zu extremer nationalistischer Rhetorik hat sich für die Opposition nicht ausgezahlt.
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Für türkische Oppositionelle brechen noch schlechtere Zeiten an. Zwar wurde es am Ende knapper, als es zu befürchten war nach dem ersten Wahlgang, dessen Ausgang bei der linken und zivilgesellschaftlichen Opposition tiefe Enttäuschung hinterlassen hatte. Die daran anschließenden zwei Wochen bis zur Stichwahl waren von aggressiv nationalistischen Tönen seitens des Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu geprägt. Doch konnte Recep Tayyip Erdoğan den zweiten Wahlgang mit 52,1 Prozent für sich entscheiden. Er bleibt Präsident und kann die autoritäre Formierung der Türkei zu einem islamistisch-nationalistischen Einheitsstaat weitere fünf Jahre fortsetzen.
Für die säkularen, liberalen und ­linken Oppositionskräfte, für Kurd:in­nen, Intellektuelle, Journalist:innen, Künstler:innen, LGBT-Personen und generell alle gesellschaftlichen Minderheiten wird dies weitere und vermutlich noch schärfere Repression bedeuten. Die zahlreichen politischen Gefangenen können Hoffnungen auf eine baldige Freilassung wohl bis auf Weiteres begraben.

So weit, so deprimierend. Kılıç­daroğlu, Vorsitzender der CHP und Kandidat der im »Bündnis der Nation« zusammengeschlossenen Oppositionsparteien, hatte letztlich kaum eine Chance, seinen Rückstand aus dem ersten Wahlgang aufzuholen. Er war in einer klas­sischen double bind-Situation gefangen: Einerseits musste er sich um die rechts­nationalistische Klientel des ausgeschiedenen dritten Präsidentschaftskandidaten Sinan Oğan bemühen, gleichzeitig aber auch versuchen, weitere linke und vor allem kurdische Stimmen zu gewinnen – was einander ausschloss. Er entschied sich für die nationalistische Taktik, verschärfte seine vor dem ersten Wahlgang noch in freundliche Worte verpackten Versprechen einer »Rückführung« syrischer Geflüchteter zu offen xenophober Rhetorik und holte auch noch die rechtsextreme Partei des Sieges (Zafer Partisi) von Ümit Özdağ, der gegen Kurd:in­nen und Flüchtlinge hetzt, in sein Oppositionsbündnis.

Offenbar hoffte Kılıçdaroğlu, mit dieser Wendung nicht allzu viele kurdische und linke Wähler:innen abzuschrecken, da diese schon deren rein wahltaktischen Charakter verstehen würden – und tatsächlich unterstützte ihn die linke, prokurdische HDP bis zum Wahltag. Nur dürften die von Kılıçdaroğlu umworbenen Rechten dessen Rhetorik großteils ebenso als rein taktisch und somit unglaubwürdig wahrgenommen haben, mochte dieser sich in seinen Wahlspots auch vor noch so großen türkischen Fahnen aufbauen und zu nationalistischen Sprüchen mit der Faust auf den Schreibtisch hauen.

Fast die Hälfte der Wähler:innen hat gegen Erdoğan gestimmt, auch weil vor allem viele Jüngere das nationalistisch-islamistisch-autoritäre Ideologiegebräu ablehnen.

Zutreffend interpretierten daher bereits zahlreiche Kommentare und Analysen den Wahlkampf auch jenseits des Ergebnisses als Triumph des tief in die 100jährige Geschichte und in die Gesellschaft der modernen Türkei eingelassenen Nationalismus und ­Autoritarismus. Erdoğan hat dies noch um seine eigene Melange aus »islamisch-türkischer Synthese« und neo­osmanischen Träumen der Rückkehr zu imperialer Herrlichkeit angereichert. Jahrelange islamistisch-nationalistische Dauerbeschallung durch die von Erdoğans AKP und ihren rechten Verbündeten monopolisierten Medien tat auch jenseits des von der Opposition zu Recht als völlig unfair bezeichneten Medienwahlkampfs ihre Wirkung.

Dass trotz alldem bei einer Wahlbeteiligung von 85 Prozent fast die Hälfte der Wähler:innen gegen Erdoğan gestimmt hat, ist keineswegs nur Ausdruck von Unzufriedenheit mit der katastrophalen Wirtschaftslage, dem Missmanagement und Versagen bei der Erdbebenkatastrophe, der Korruption und Repression. Vielmehr lehnen vor allem viele Jüngere das hegemoniale nationalistisch-islamistisch-autoritäre Ideologiegebräu ab. 2023 ist eben nicht nur der 100. Jahrestag der kemal­istischen Republikgründung, den Erdoğan wohl als seinen persönlichen Triumph inszenieren wird, sondern auch das zehnjährige Jubiläum der antiautoritären Gezi-Revolte, in der sich erstmals ein wirklich breites Aufbegehren gegen den nationalistisch-autoritären Ungeist manifestierte.

Bislang vermochte nur die HDP bei den Wahlen im Juni 2015 etwas von diesem Geist in ein breites und erfolg­reiches progressives Wahlbündnis zu überführen; sie erreichte mehr als 13 Prozent, deutlich mehr als das traditionelle kurdisch-linke Wählerpotential. Mit entsprechend inbrünstigem Hass verfolgt Erdoğan seither den damaligen Spitzenkandidaten Selahattin Demirtaş, mit dessen charismatischem Auftreten der Erfolg 2015 vor allem verbunden wurde, sowie den zum ­zivilgesellschaftlichen Anstifter der Gezi-Proteste stilisierten Kulturmäzen Osman Kavala. Selbst bei seiner Rede zum jetzigen Wahlsieg vom Balkon seines Präsidentenpalasts in Ankara am späten Sonntagabend ließ Erdoğan es sich nicht nehmen, nochmals gegen Demirtaş zu wüten, ebenso gegen die LGBT-Community, welche ebenfalls stellvertretend für den »Geist von Gezi« steht.

Es ist daher nur realistisch, jetzt mit einer weiteren harten Repressionswelle gegen alle fortschrittlichen gesellschaftlichen Oppositionskräfte in der Türkei zu rechnen. Das dürfte zu einer neuen Welle politisch motivierter Auswanderung führen. Zudem ist anzunehmen, dass vor allem viele junge, gut qualifizierte Menschen unter Erdoğan keine Zukunft für sich sehen und gleichfalls abwandern. Entsprechend dringlich werden diese Menschen hierzulande Unterstützung und Soli­darität brauchen – nicht zuletzt auch gegen den Einfluss Erdoğans in der hiesigen türkischen Community, welcher sich am Sonntag in fast 68 Prozent der Stimmen und fahnenschwenkenden Autokorsos anlässlich seines Siegs in vielen Städten Deutschlands manifestierte.

In der Türkei wird es nun nicht zuletzt darauf ankommen, inwieweit der CHP eine Neuorientierung gelingt. Es ist zu hoffen, dass die Ära der im Geist des alten kemalistischen Nationalismus politisch sozialisierten Kräfte um den 74jährigen Kılıçdaroğlu endgültig zu Ende geht und die dieser Partei ­angehörenden fortschrittlichen Ver­tre­ter:innen der »Generation Gezi« zum Zuge kommen. Denn nur im Bündnis einer solcherart erneuerten CHP mit den Kräften um die HDP – oder ihrer Nachfolgepartei, sollte das derzeit laufende Verfahren zu einem Verbot führen – wird eine Überwindung von Erdoğans Autoritarismus auf demokratischem Wege möglich sein.