Ein persönlicher Rückblick auf die Bundesliga-Saison von Borussia Dortmund

Schon wieder nicht Meister

Der diesjährige Nichtgewinn des Meistertitels der Bundesliga ist besonders schwer zu verkraften – ein persönliches Resümee eines ­Sportjournalisten und BVB-Fans.

Es ist nun schon mehr als eine Woche her, dass der FC Bayern München zum elften Mal in Folge Deutscher Fußballmeister wurde. Und mir der Spaß am Fußball weitestgehend vergangen ist.

Als jahrzehntelanger BVB-Fan bin ich einiges gewohnt, deswegen wäre ein nicht erreichter Titel für mich normalerweise eigentlich auch kein Drama gewesen. Neben Fan bin ich schließlich auch Sportjournalist und kann analysieren, was man von einem Kader erwarten darf und was nicht. Außerdem weiß ich, dass man immer mit außergewöhnlichem Glück oder Pech rechnen sollte. Titel und Enttäuschungen konnte ich deswegen immer recht schnell relativieren und für mich persönlich einordnen. Das gelingt mir nach diesem Saisonfinale bisher nicht. Und das, obwohl ich nicht so fest vom Titelgewinn ausgegangen bin wie ungefähr halb Deutschland – und fast ganz Dortmund.

Mir war das Umfeld in Dortmund in den Tagen vor dem finalen Spiel der Saison viel zu euphorisch. Zuletzt traf man kaum mal jemanden, der mit der gebotenen Demut an die Sache herangegangen wäre. Im Prinzip hatten alle den Titel schon als gewonnen abgehakt. Das fiel mir schon vor dem Samstag auf. Die Euphorie in der Stadt war diesmal im Vergleich zu früheren Jahren, in denen es die Chance auf den Meistertitel gegeben hatte, auffällig groß. Zu groß, wie wir jetzt wissen, und je näher der Spieltag kam, umso größer wurde sie.

In den neunziger Jahren stiegen die Ansprüche an den BVB, der Kader wurde edler, und Ottmar Hitzfeld formte ein Spitzenteam, von dem man auch Titel erhoffen konnte.

BVB-Fan bin ich, wenn ich den Überlieferungen der Verwandtschaft glauben darf, seit 1977. Damals war die Borussia gerade erst wieder in die Bundesliga aufgestiegen. In meinen ersten Jahren als Fan erlebte ich jede Menge sportliches Mittelmaß. Man war stets froh, wenn die Borussen nicht abstiegen, oder auch schon, wenn ein Heimspiel, bei dem man im Stadion war, nicht mit einer Niederlage endete.

Mein Vater nahm mich zunächst nur ein paar Mal mit ins Stadion nach Dortmund. Ich erinnere mich noch, wie sehr mich die Größe der Arena damals beeindruckt hat. Und das, obwohl das Stadion in den siebziger Jahren ja noch gar nicht ausgebaut war. Zudem waren die Tribünen bei meinen ersten Besuchen bei Heimspielen nur selten mehr als bis zur Hälfte gefüllt. Trotzdem war ich vollauf begeistert von der Stimmung, vom Flutlicht, von den lautstarken Fans.

Irgendwann konnte ich mir Wochenenden ohne den BVB nicht mehr vorstellen. Da ich zunächst nur selten ins Stadion gehen konnte, verfolgte ich die Bundesliga bis in die Mitte der achtziger Jahre überwiegend über das Radio. Zwischen 15 und 18 Uhr lag ich samstags fast ausnahmslos in der Badewanne und hörte interessiert Kurt Brumme mit »Sport und Musik« auf WDR 2. War der Spieltag um kurz vor 18 Uhr absolviert, wechselte ich von der Badewanne vor den Fernseher, um von Ernst Huberty durch die »Sportschau« der ARD geführt zu werden. Unvorstellbar aus heutiger Sicht, dass es dort im Regelfall nur drei Begegnungen in Bildern zu verfolgen gab. Den Rest gab es nur im »Ergebnisblock«. Wer von diesen Spielen etwas im Fernsehen sehen wollte, der musste bis zum »Sportstudio« im ZDF am späten Abend warten.

Als Teenager fuhr ich mit Freunden regelmäßig ins Stadion, wir hatten dann auch bald alle Stehplatz-Dauerkarten. Diese Saisontickets kosteten damals für Jugendliche und Schüler keine 100 Mark. Fast genauso aufregend wie die Spiele waren für uns die Fahrten mit der Straßenbahn, schon dort traf man auf unzählige andere Fans, auch von den gegnerischen Teams.

Als wir 18 Jahre und älter waren, fuhren wir nicht nur ins Westfalenstadion, sondern begleiteten den BVB auch immer öfter auswärts. Wir begleiteten die Borussia durch die halbe Republik. Und das, obwohl das Team damals keine Spitzenmannschaft war. Uns reichte es, wenn die Jungs ihr Bestes gaben, kämpften und nicht in Abstiegsgefahr gerieten. Deshalb war auch der Pokalsieg 1989 für uns so besonders. Im Prinzip war er das erste Highlight meines damaligen Fan-Daseins. Der BVB ging als klarer Außenseiter gegen den SV Werder Bremen in das Spiel – und gewann mit 4:1 im Berliner Olympiastadion. So etwas kannten wir damals ja eigentlich nicht. Entsprechend enthusiastisch feierten wir in Berlin den ersten selbst miterlebten Erfolg.

In den folgenden Jahren stiegen die Ansprüche, der Kader wurde edler, und Ottmar Hitzfeld formte ein Spitzenteam, von dem man auch Titel erhoffen konnte. Die wurden auch prompt geholt, 1995 und 1996 wurde der BVB Meister, 1997 gewann ­er die Champions League.

Davor hatte es riesige Enttäuschungen gegeben, 1992, zum Beispiel, als den Dortmundern die mögliche Meisterschaft wenige Minuten vor dem Spielende noch durch ein spätes Tor des VfB Stuttgart in Leverkusen entrissen wurde. Ich war mit den Schwarz-Gelben, wie man den Dortmunder Anhang wegen der Vereinsfarben nennt, im Duisburger Wedau-Stadion und war trotz des 1:0-Siegs nach Spielende unendlich traurig.

Der Meisterschaft von 2002 folgte der finanzielle Niedergang des Clubs, die 2005 um ein Haar in die Insolvent geführt hätte. 2008 begann dann die unglaubliche Erfolgsära unter Trainer Jürgen Klopp. Aber auch damals lief längst nicht alles rund. Das verlorene Champions-League-Endspiel von 2013, als die Bayern in London kurz vor Schluss den Siegtreffer zum 2:1 erzielten, zum Beispiel, ebenso wie manche bittere Finalniederlagen im DFB-Pokal.

Die Mannschaft spielte auffällig verängstigt. Ich vermute, dass fehlende Reife der Spieler und die immense Erwartungshaltung des Umfelds für den jungen Kader nicht zu verkraften waren.

Was den verpassten Titel 2023 so einmalig macht, das ist nicht nur die ellenlange, und für einen Dortmunder meiner Generation nur schwer zu ertragende Erfolgsserie der Bayern in den Jahren zuvor mit mittlerweile elf Titeln am Stück, sondern vor allem die Tatsache, dass ­die Borussia die Bayern diesmal schon gar nicht mehr zu fürchten brauchte, als es in den letzten Spieltag ging. Die Münchner hätten Köln mit 25:0 vom Platz fegen können und hätten doch aus der Ferne später machtlos zusehen müssen, wie Marco Reus und Kollegen in Dortmund feiernd durch die Stadt ziehen. Wenn der BVB denn selbst seine Hausaufgaben gegen den Mainz erledigt hätte. Es ist bekanntlich anders gekommen, es reichte nur zu einem 2:2. Und das aufgrund eigener Unzulänglichkeiten. So knapp und an sich selbst zu scheitern, das hatte ich in all den Jahren seit 1977 in dieser Deutlichkeit noch nicht miterleben müssen.

Die Mannschaft spielte auffällig verängstigt. Ich vermute, dass fehlende Reife der Spieler und die immense Erwartungshaltung des Umfelds für den jungen Kader nicht zu verkraften waren. Der BVB hat in den vergangenen Jahren aus meiner Sicht zu viel auf die Jugend gesetzt. Führungsspieler gibt es derzeit kaum noch im Kader und wenn, dann in fortgeschrittenem Fußballalter (Reus, Hummels). Zudem stimmte mich die hohe Anzahl von sportlichen Ausrutschern im Laufe der vergangenen Wochen und Monate – gegen Bremen (2:3 nach 2:0), Schalke (2:2), Stuttgart (3:3), Bochum (1:1), um hier nur ein paar zu nennen – skeptisch.

Immer wieder hatten Dortmunder Spieler nach solchen Partien betont, sie hätten nun verstanden. Und immer wieder hatte sich in unschöner Regelmäßigkeit gezeigt, dass dem nicht so war. Das Mainz-Spiel war dann die Krönung einer Saison, die nicht so stark war, wie sie vielen im BVB-Umfeld durch die Schwäche der Bayern erschien. Die 71 Punkte in der Endabrechnung waren nur zwei mehr als in der Vorsaison, als man Trainer Marco Rose nach 69 Zählern und Platz zwei von seinen Aufgaben entbunden hatte.

Der BVB hat sich hier zu lange selber etwas vorgemacht. Dass man auch als strauchelnder Favorit in einem entscheidenden Spiel das Ruder noch herumreißen kann, das hat am Sonntag der Zweitligist Heidenheim bewiesen, der beim feststehenden Absteiger aus Regensburg bis in die Nachspielzeit hinein mit 1:2 zurücklag, dann aber noch 3:2 gewann und sich dadurch die Meisterschaft in der Zweiten Liga sicherte

Der BVB verkrampfte in seinem Endspiel gegen Mainz jedoch zusehends und sorgte somit für eine Enttäuschung, wie ich sie in meinem Leben als Fan bisher noch nicht miterlebt habe. Zum Glück nicht.

Ich brauche jetzt erst einmal ein paar Wochen Abstand vom Fußball. Und das habe ich in meinem Leben zuvor so noch nie empfunden.