Es hat sich ausgeliefert
Vor etwas mehr als einem Jahr schien die Zukunft für Getir noch rosig auszusehen. Im März 2022 wurde der Lieferdienst mit dem lila-gelben Firmenlogo, der Lebensmittelbestellungen mit Mofas ausfahren lässt, noch mit zwölf Milliarden Dollar bewertet. Ende desselben Jahres übernahm der Konzern den in Berlin ansässigen Konkurrenten Gorillas. Damit kam Getir nach eigenen Angaben auf über 1.000 Filialen in 81 Städten der Türkei sowie 48 Städten im Vereinigten Königreich, in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden, Portugal und den USA.
Doch das große Netz zu unterhalten, war sehr teuer. Jede Lieferung verursachte mehr Kosten, als sie einbrachte. Das Handelsblatt berichte im Juli, dass Getir monatlich bis zu 100 Millionen US-Dollar Verluste mache. Die Regale in den Lagerräumen eines Standortes in Berlin seien leer geblieben, denn es habe das Geld gefehlt, die Lieferanten zu bezahlen, berichtete das Medienunternehmen Bloomberg. Jetzt hat das Unternehmen Konsequenzen gezogen. In Spanien, Portugal und Italien sowie in 17 von bisher 23 Städten in Deutschland wird der Betrieb eingestellt. 2 500 Angestellten soll weltweit gekündigt werden, darunter vielen in Deutschland.
Getir wurde 2015 in der Türkei gegründet, es ist das älteste der sogenannten Quick-Commerce-Unternehmen. Nun scheint es eine ähnliche Entwicklung wie Gorillas durchzumachen. Auch der Berliner Konzern, gegründet 2020, hatte durch Expansion in verschiedene Länder viel Geld verbrannt. Trotz erheblicher Einsparungsversuche durch Personalabbau im Sommer 2022 fanden sich keine Investoren mehr, die noch Kapital in das Unternehmen stecken wollten. Ende vergangenen Jahres wurde Gorillas für 1,2 Milliarden Euro von Getir übernommen.
Das Geschäft mit der schnellen Lieferung wurde bisher noch von keiner Firma rentabel betrieben. Der internationalen Expansion stand das nicht im Weg, weil die Unternehmen mit sogenanntem Risikokapital finanziert werden. Wie es in Branchen der »New Economy« üblich ist, handelt es sich bei den Unternehmen um Spekulationsobjekte. Es ist Teil des Geschäftsmodells, erst einmal große Mengen Kapital zu verbrennen, um möglichst viele Marktanteile zu erobern.
Getirs Hauptkonkurrent Flink hat ebenfalls noch keinen Gewinn erzielt und musste kürzlich mehr als die Hälfte seines Personals entlassen.
Gelingt das, steigt der Aktienwert, ohne dass Profite erwirtschaftet werden müssen. Meistens bleiben am Ende nur wenige Unternehmen übrig, die dann ihre Marktmacht nutzen können, um endlich – so die Hoffnung – Profite erwirtschaften zu können. Ein Beispiel ist Uber: Den weltweit agierenden Konzern gibt es seit über zehn Jahren, er hat einen Wert von 95 Milliarden US-Dollar – und erst vor einem Monat gab er bekannt, zum ersten Mal in der Firmengeschichte ein Quartal mit Gewinn abgeschlossen zu haben.
Noch ist fraglich, ob es im Falle des Quick Commerce ebenfalls ein solches glückliches Ende für die Investoren geben wird. Getirs Hauptkonkurrent Flink hat ebenfalls noch keinen Gewinn erzielt und musste kürzlich mehr als die Hälfte seines Personals entlassen. Ende Mai erhielt Flink aber noch mal 150 Millionen Euro Kapital, unter anderem vom Supermarktkonzern Rewe. Es steht nun womöglich besser da als Getir.
Quick-Commerce-Firmen bieten bargeldlose Bestellung via App und die sofortige Lieferung der Waren über eine Flotte von Kurier:innen – Getir wirbt mit dem Slogan »Lebensmittel in Minuten«. Zu Beginn der Covid-19-Pandemie 2020 und 2021 erlebte die Branche einen Boom. Das Berliner Unternehmen Gorillas wurde bereits wenige Monate nach seiner Gründung 2020 mit einer Milliarde US-Dollar bewertet, die Konkurrenzunternehmen Getir und Flink stiegen ebenfalls im Wert.
Laut dem Informationsdienst Pitcpook erhielten Unternehmen der Quick-Commerce-Branche im Jahr 2021 weltweit fast zehn Milliarden US-Dollar Risikokapital. Davon gingen 850 Millionen Dollar an Getir und jeweils knapp 290 Millionen Dollar an die deutschen Firmen Flink und Gorillas.
Doch anders als bei Restaurant-Lieferplattformen wie Lieferando bringt das Geschäft mit den Lebensmittellieferungen die hohen Betriebskosten des Einzelhandels mit sich. Um die versprochenen kurzen Lieferzeiten in den entsprechenden Stadtteilen einhalten zu können, müssen hohe Mieten für Lagerräume in den zentralen Innenstadtlagen bezahlt werden. Frische Lebensmittel müssen ununterbrochen gekühlt werden, dadurch sind die Energiekosten hoch.
Die einzige Möglichkeit, um Kosten zu senken, sind oft die Personallohnkosten. Die wurden deshalb auch schon vor den jetzigen Entlassungen gedrückt, wo es ging: Arbeiter:innen kritisieren die Lieferunternehmen seit Beginn für ihre schlechten Arbeitsbedingungen. Sie berichten immer wieder über unbezahlte Überstunden, schlechten Arbeitsschutz und eine hohe Arbeitsbelastung durch die kurzen Lieferzeiten. Nach dem Vorbild der Arbeiter:innenvertretung Gorillas Workers Collective hat sich auch ein Getir Workers Collective gegründet, das über X (ehemals Twitter) zum Boykott der eigenen Firma aufruft und sogar einen »globalen Streik« in Aussicht stellt.
Lieferando hat hingegen den Vorteil, dass die Gastronomiebetriebe die Löhne für die Arbeiter:innen in der Küche, die Miete und die Energiepreise allein stemmen und zudem pro Bestellung über die App bis zu 30 Prozent des Umsatzes an Lieferando zahlen müssen. Der Mutterkonzern von Lieferando, Just Eat Takeaway, erzielte im ersten Halbjahr 2023 sogar Gewinn. Die Arbeitsbedingungen sind dort freilich kaum besser. Um Verhandlungen über einen Tarifvertrag zu erzwingen, hat die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) wiederholt Warnstreiks organisiert, zuletzt Mitte August in Berlin. Sie fordert einen Stundenlohn von mindestens 15 Euro, die Zahlung eines 13. Monatsgehalts und angemessene Zuschläge für Abend-, Sonn-, und Feiertagsschichten.