Stochastischer Terrorismus
Obwohl es Donald J. Trump gerichtlich verboten ist, unter anderem potentielle Zeugen und Mitarbeiter der Anklagebehörden zu beleidigen und zu bedrohen, wirkt es nicht so, als halte er sich bei seinen Äußerungen nennenswert zurück. Ein Posting, das Trump am 22. September auf seinem sozialen Medium Truth Social veröffentlicht hatte, fand nun Eingang in die 22 Seiten umfassende Antwort des Sonderermittlers Jack Smith auf eine offizielle Beschwerde von Trump gegen eben dieses Verbot. Nachdem bekannt geworden war, dass General Mark Milley, seit 2019 Vorsitzender des Vereinigten Generalstabs der USA, in der Woche darauf in den Ruhestand verabschiedet werden würde, hatte Trump in seiner üblichen Mixtur aus Lügen, Großkotzigkeit und unterschwelligen Drohungen zwei Telefonate Milleys nach China als »ungeheuerliche« Taten bezeichnet, die »in früheren Zeiten die Todesstrafe bedeutet« hätten.
Dass dieses Posting es – wie übrigens auch Trumps demonstratives Posieren mit einer Glock-Pistole während seines Besuchs bei einem Waffenhändler in South Carolina vor einigen Tagen – in die staatsanwaltliche Begründung für die sogenannte gag order schaffte, hat mit dem Begriff stochastic terrorism zu tun. Er steht für »zufälligen« Terrorismus, der dadurch in Gang gesetzt wird, dass eine prominente Person oder Personengruppe politische Gegner gezielt durch bösartige wahrheitswidrige Behauptungen verunglimpft, dämonisiert und entmenschlicht und damit sozusagen zum Abschuss freigibt. »Wir wissen, dass zu irgendeinem Zeitpunkt unweigerlich ein Angriff erfolgen wird, aber wir wissen eben nicht, wann und wo«, erklärt der Soziologe Ramón Spaaij.
Stochastischer Terrorismus spiele, so die Zeitschrift Scientific American, mit »stärksten und kompliziertesten menschlichen Gefühlen, nämlich Abscheu, Angst und Hass«. Er biete denjenigen, die bei potentiellen Tätern diese Gefühle durch ihre Lügen und Verleumdungen auslösten, überdies eine bequeme Entschuldigung: Sie hätten ja niemals explizit zu Gewalt aufgerufen.
Für David Corn, den Leiter des Washingtoner Büros des Magazins Mother Jones und Politikanalyst für den Fernsehsender MSNBC, steht seit längerem fest, dass Donald Trump und seine republikanischen Gefolgsleute gezielt stochastischen Terror provozierten. Als ein Beispiel aus jüngerer Zeit nannte Corn den Versuch eines bewaffneten Manns am 11. August 2022, auf das Gelände des FBI in Cincinnati vorzudringen. Drei Tage zuvor hatten FBI-Agenten Trumps Anwesen in Mar-a-Lago durchsucht, woraufhin nicht nur Trump, sondern auch seine Gefolgsleute Hassbotschaften gegen das FBI verbreitet hatten.
»Wir wissen, dass zu irgendeinem Zeitpunkt unweigerlich ein Angriff erfolgen wird, aber wir wissen eben nicht, wann und wo.« Ramón Spaaij, Soziologe
Der rhetorische Angriff auf Milley kam nicht unerwartet. Der General hatte es während Trumps Präsidentschaft weitgehend vermieden, sich über ihn zu äußern, nach dessen Wahlniederlage allerdings an einer möglichst reibungslosen Amtseinführung von Joe Biden gearbeitet. Im Buch »The Divider: Trump in the White House, 2017–2021« beschrieben Peter Baker und Susan Glasser, dass der General Trump für »mitschuldig« am Sturm auf das Kapitol und seine Rolle dabei für »beschämend« gehalten habe. Demnach habe er bereits Wochen zuvor befürchtet, dass Trumps unermüdlich verbreitete Lüge vom gestohlenen Wahlerfolg zu einem »Reichstag-Moment« führen könnte.
Milley war mit diesen Ansichten im Kreis der US-Generäle nicht allein, wie der Journalist Jeffrey Goldberg Ende September in The Atlantic beschreibt. So habe ihn beispielsweise General John F. Kelly, von 2017 bis 2019 Trumps Stabschef im Weißen Haus, beschrieben als den »mit den meisten Fehlern behafteten Menschen«, den er jemals getroffen habe. Und General James Mattis, erster Verteidigungsminister der Regierung Trump, hatte im Kollegenkreis erklärt, er halte den Präsidenten »für gefährlicher, als es sich irgendjemand vorstellen kann«.
Einigkeit bestand in der US-Militärführung demnach auch im Punkt Atomwaffen. Mehrmals, zuletzt am 8. Januar 2021 in einem Gespräch mit Nancy Pelosi, hatten US-Generäle – wenn auch kryptisch – es ausgeschlossen, dass Trump in einem seiner berüchtigten Wutanfälle einen nuklearen Angriff veranlassen könne. Er könne zu 110 Prozent garantieren, dass das US-Militär »nichts Illegales oder Verrücktes« tun werde, sagte Milley damals Pelosi.
In den von Trump beanstandeten Telefonaten hatte Milley chinesische Stellen im Oktober 2020 beruhigt, dass kein US-Angriff bevorstehe, und am 6. Januar 2021 versichert, der Sturm auf das Kapitol gefährde die Stabilität der USA nicht. Trumps Hasstirade kam also nicht von ungefähr, und sie zog zahlreiche Attacken seiner Anhänger nach sich. Sebastian Gorka, ein ehemaliger Berater Trumps, sagte, Milley habe es verdient, »in Handfesseln und Fußeisen« gelegt zu werden. Kash Patel, gegen Ende von Trumps Amtszeit in eine leitende Funktion im Pentagon gelangt, bezeichnete Milley im Qanon-Sprech als »the Kraken of the swamp«, den Kraken im Sumpf. Paul Gosar, seit 2011 republikanischer Abgeordneter im Repräsentantenhaus mit guten Verbindungen zu rechtsextremen Gruppen, ließ wissen: »In einer besseren Gesellschaft würden Quislinge wie der seltsame, Sodomie fördernde General Milley gehängt werden.«
Milley und seinen Beratern war offenkundig schnell klar, dass die verbalen Angriffe nicht ganz ungefährlich waren. In einem Interview mit der CBS-Sendung »60 Minutes« wies er nicht nur alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurück, sondern teilte auch mit, »angemessene Sicherheitsvorkehrungen zu seinem eigenen Schutz und dem seiner Familie« getroffen zu haben.
Wie genau Trump Angriffe auf ihm verhasste Personen verfolgt, zeigte sich zuletzt am 28. September, als er in einer Rede Nancy Pelosi nicht nur als »verrückt« bezeichnete, sondern auch scheinheilig fragte, ob jemand wisse, wie es ihrem Ehemann gehe. Nancy Pelosi war von Trump und seinen Anhängern jahrelang beleidigt und unterschwellig bedroht worden, dazu kursieren jede Menge Verschwörungslügen über sie.
Am 28. Oktober 2022 drang dann ein Mann in das Haus des Ehepaars ein, um Nancy Pelosi als Geisel zu nehmen und sie zu verhören. Sein Plan war, ihr die Kniescheiben zu brechen, wenn sie ihn anlügen, mit anderen Worten: seine Verschwörungsphantasien nicht bestätigen würde. Der Angreifer hoffte, dass sie dann in einem Rollstuhl in den Kongress gefahren und eine symbolische Warnung an alle anderen Politiker sein werde. Pelosi war an diesem Tag allerdings abwesend, entsprechend wurde ihr Haus nicht vom Secret Service beschützt. Der Angreifer, unter anderem Qanon-Anhänger und Impfgegner, verletzte den 83jährigen Paul Pelosi mit einem Hammer schwer und ließ sich später widerstandslos festnehmen. Dieser Angriff auf den Ehemann gilt als ein typisches Beispiel für stochastischen Terror. Der Prozess gegen den Attentäter soll am 23. Oktober beginnen.