»Humor ist für autoritäre Menschen beunruhigend«
Ihr neuestes Buch heißt »Tagebuch der Unruhe«. Ein großer Teil beschreibt Ihre Kindheit in Istanbul und die verschiedenen Welten dort.
Ich bin in Gaziosmanpaşa aufgewachsen, einem Randbezirk Istanbuls. Meine Eltern waren als Lehrer dorthin versetzt worden, deswegen lebte ich da, bis ich von zu Hause auszog. Zu meiner Zeit war das ein Ort, an dem die Straße von Grobianen mit konservativen Ansichten beherrscht wurde. Seit meiner Kindheit hatte ich nie das Gefühl, dort hinzugehören. Aber ich gehörte auch nicht in die reichen Viertel. Ich hatte zum Beispiel Angst, wenn ich in das schicke, liberale Nişantaşı oder Kadıköy fuhr.
Ich glaube, das ging vielen so. Das war eine andere Welt. Im Lauf der Zeit, zunächst dank der Schule, die ich besuchte, und dann dank der Zeitschriften, für die ich arbeitete, begann ich, Menschen zu finden, denen ich mich nahe fühlen konnte. Ich habe Beyoğlu immer geliebt und bin dorthin gezogen, sobald ich mein erstes Geld verdient habe. Die Satirezeitschriften, das Nachtleben, die Cafés … Der Stadtteil hat einen besonderen Platz in meinem Herzen.
Dennoch sind Sie nach Paris gezogen. Warum haben Sie Istanbul verlassen?
Ich bin erst vor fünf Monaten nach Paris gezogen. Davor habe ich zwei Jahre in den USA gelebt und wollte dort auch bleiben. Dann lernte ich meine Frau kennen und wir heirateten. Ihr Lebensmittelpunkt ist Paris und ich mag die Stadt auch. Deshalb haben wir uns entschieden, vorerst hier zu leben.
Istanbul ist eine der schönsten und interessantesten Städte der Welt. Es war nur so, dass ich dort schon eine ganze Weile lang keinen inneren Frieden mehr gefunden hatte. Beyoğlu hatte sich nach den Gezi-Protesten im Jahr 2013 stark verändert. Viele Buchhandlungen und Cafés sind verschwunden und wurden durch Läden ersetzt, die Konfekt an Touristen verkaufen – eine gezielte Gentrifizierungspolitik. Aber trotzdem, Beyoğlu hatte immer etwas Unbeugsames. Und diese Verschandlungen sind sofort vergessen, sobald man bei Sonnenuntergang in eine Bosporus-Fähre einsteigt.
Wie entstand die Idee, »Das Tagebuch der Unruhe« zu verfassen?
Mitte der zehner Jahre setzte ich mir zum Ziel, mit meinen Zeichnungen auch im Ausland zu erscheinen. Die Zeitschrift Fluide glacial in Frankreich mochte meine Arbeit. Sie begannen mit der Veröffentlichung der »Yeraltı Öyküleri« (Underground Stories), die ich in der Türkei gezeichnet hatte. Französische Leser und Leserinnen fragten auf Festivals häufig: »Wie ist es, in einem Land wie der Türkei Zeichner zu sein?« Mir wurde klar, dass ich diese Frage durch meine Arbeit am besten künstlerisch beantworten kann.
»Es ist das Zeitalter des Internets. Humoristen, Cartoonisten und Geschichtenerzähler werden sicherlich andere Plattformen als Zeitschriften finden.«
Graphic Memoir ist als Genre etabliert; »Maus« und insbesondere »Persepolis« waren Bücher, die mich schon vor Jahren beeinflusst hatten. Seit 2002 zeichnete ich wöchentlich autobiographische Geschichten. Nun folgt »Das Tagebuch der Unruhe«, eine Trilogie, deren erster Band jüngst auf Französisch erschienen ist.
Welche Zeitspanne umfasst das Buch und warum haben Sie diesen Zeitrahmen gewählt?
Ich habe den Zeitraum ausgewählt, den ich am besten kenne. Das heißt, die letzten 30 bis 40 Jahre. Aber ich behaupte nicht, die Geschichte des Landes zu erzählen, denn das ist nicht meine Aufgabe. Ich habe einfach versucht, einige Anekdoten zu vermitteln, die mein eigenes Leben beeinflusst haben und die ich für wichtig halte, ohne damit langweilen zu wollen.
In dem Buch sprechen Sie über die Schwierigkeit, über die Runden zu kommen. Ihr musste Vater zwei Berufe gleichzeitig ausüben. Ihre Eltern wollten, dass Sie Ingenieur werden. Hat sich die Situation von Familien wie der Ihren inzwischen geändert?
Ich denke, dass es aufgrund der derzeitigen Inflation viel schwieriger geworden ist, über die Runden zu kommen und sorgenfrei zu leben. Ich habe zwei Neffen und beide machen sich große Sorgen um ihre Zukunft. Das sind zwei kleine Kinder. Das Ausmaß des Leids von Menschen mit niedrigem Einkommen, die versuchen, eine Familie zu ernähren, ist kaum vorstellbar. Meine Eltern wollten, dass ich einen »richtigen Beruf« habe, statt für Zeitschriften zu zeichnen. Aber dann haben sie verstanden, wie groß mein Wunsch war. Heute stehen sie hinter mir, egal was ich tue.
2004 veröffentlichte die Zeitschrift »Penguen«, bei der Sie gearbeitet haben, auf dem Cover Karikaturen, die Erdoğan in unterschiedlichen Tiergestalten darstellten. In den folgenden Jahren wurden Karikaturisten zur Zielscheibe staatlicher Repression. Erdoğan klagte wegen Beleidigung, das Verlagshaus von »Penguen« wurde Ziel eines ungeklärten Brandanschlags. Wenn Sie heute zurückblicken, wie bewerten Sie diese Zeit?
Ich hatte schon in den ersten Jahren von Erdoğans Aufstieg vorausgesagt, dass er solche Kritik auf Dauer nicht dulden werde. Eine Karikatur empfindet er als reinen Spott. Humor ist für autoritäre Menschen sehr beunruhigend. Wenn du lachst, während jemand dich zusammenschlägt, ist das sehr irritierend für den Schläger: Er hat nicht mehr die ganze Kontrolle. Nach den Gezi-Protesten hat Satire diese Leute noch mehr provoziert. Denn damals wurde ihnen klar, dass sie mit einer Denkweise zu kämpfen haben, die sich starren Mustern grundsätzlich widersetzt. Danach kam es zu Verhaftungen, sobald jemand nur wagte, etwas zu twittern. Mit Humor können sie nicht umgehen, weil Humor immer einen Weg findet, Kritik auszudrücken.
In der Türkei wurden Cartoon-Magazine nach den Putschen von 1971 und 1980 sehr erfolgreich, doch mittlerweile gibt es nur noch wenige davon. Was hat sich geändert?
Die Zeitschrift Uykusuz wurde nach 15 Jahren geschlossen. Wir mussten sie nicht aufgrund direkten politischen Drucks aufgeben, sondern wegen der wirtschaftlichen und kulturellen Probleme, die durch den politischen Druck entstanden sind, dem dieses Land ausgesetzt ist. Aber jetzt ist das Zeitalter des Internets. Humoristen, Cartoonisten und Geschichtenerzähler werden sicherlich andere Plattformen als Zeitschriften finden.
Am Ende des Buchs versammeln sich Superhelden im Zimmer des Cartoonisten, um ihre Unterstützung anzubieten. Ist es heutzutage notwendig, als Cartoonist in der Türkei ein Superheld zu sein? Der Präsident wird in dem Buch sehr deutlich kritisiert. Könnte es dadurch in der Türkei zu Problemen kommen?
Es gab Verlage, die das Buch in der Türkei veröffentlichen wollten. Aber zum einen besitze ich die Rechte nicht, sie gehören meinem französischen Verleger Dargaud. Zum anderen machen sich türkische Verleger und ihre Anwälte wegen einer einzigen Seite des Buchs einen Kopf. Es ist das Penguen-Cover aus dem Jahr 2004 mit Erdoğan in Tiergestalt. Deshalb gibt es vorerst keine türkische Ausgabe des Buchs und ich weiß nicht, wann eine erscheinen wird.
In Paris fand 2015 das Attentat auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo statt. Wie sehen die Franzosen einen Karikaturisten aus der Türkei?
Sie kennen uns nicht sehr gut. Ich versuche, in dem Buch über die Comic- und Humorkultur in der Türkei zu sprechen. Diejenigen, denen ich es zu lesen gab, waren ziemlich überrascht, weil sie noch nicht einmal davon gehört hatten. Ich denke, wir können der Welt noch viel mehr von uns vermitteln. In der Türkei haben die Karikaturisten momentan allerdings nicht einmal die Zeit oder Energie, den Kopf zu heben und sich woanders umzusehen. Zum Glück gibt es jedoch viele Meister ihres Fachs, die mittlerweile auf der ganzen Welt veröffentlicht werden.
Welche Comicautoren bewundern Sie? Wer hat Ihre Arbeit beeinflusst?
Hergé, Uderzo, Art Spiegelman, Robert Crumb, Mœbius, Daniel Clowes, Charles Burns sind die Ersten, die mir in den Sinn kommen. Aus der Türkei: Suat Gönülay, İlban Ertem, Engin Ergönültaş, Galip Tekin, Bülent Arabacıoğlu, Ergün Gündüz, Kemal Aratan, Kenan Yarar, Mehmet Çağçağ, Bahadır Baruter, Bülent Üstün, Memo Tembelçizer, Emrah Ablak. Ich könnte noch mehr aufzählen, aber diese haben mich am meisten beeindruckt.
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Der türkische Cartoonist Ersin Karabulut wurde mit seiner Comic-Kolumne »Sandık İçi« in der von ihm 2007 mitgegründeten wöchentlich erscheinenden Satirezeitschrift »Uykusuz« (Schlaflos) bekannt, die sich im Januar von ihren Lesern verabschiedete. Karabulut studierte in der Abteilung für Graphikdesign an der Mimar-Sinan-Universität der Schönen Künste in Istanbul. Seine Comics veröffentlicht er in der Türkei und im Ausland. Der erste von drei Bänden von Karabuluts neuester Graphic Novel »Das Tagebuch der Unruhe« erscheint Ende Oktober zur Frankfurter Buchmesse auf Deutsch.