Die innere Front
Der anhaltende Krieg hat bestehende gesellschaftliche Gegensätze in Israel weiter verschärft und gleichzeitig neue Risse entstehen oder sichtbar werden lassen. Das gilt zum einen für den eher liberalen Teil der Gesellschaft, in dem nach dem 7. Oktober nicht wenige, obwohl sie sich prinzipiell ein friedliches Zusammenleben mit den arabischen Nachbar:innen wünschen, ein hartes militärisches Vorgehen fordern. Zum anderen verschärft sich der Gegensatz zwischen dem relativ sicheren Zentrum rund um Tel Aviv sowie dem ebenfalls relativ sicheren Jerusalem und der akut bedrohten und teilweise evakuierten Peripherie im Norden und Süden Israels.
Ende Juli hatten »ultranationalistische Mobs« zwei Gefangenenlager der israelischen Armee zu stürmen versucht, um die Soldaten zu befreien.
Und auch extrem rechte Israelis suchen die Polarisierung. Ende Juli und erneut Mitte August, diesmal in Begleitung von 2.000 Anhänger:innen, besuchte der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, den Tempelberg und verkündete, alle Juden dürften nun dort beten. Ihm widersprach Innenminister Moshe Arbel von der orthodoxen Partei Shas, der darauf verwies, dass nach Ansicht des orthodoxen Rabbinats der Berg von Jüdinnen und Juden nicht einmal betreten werden dürfe. Das Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ließ verlauten, Ben-Gvir sei von Koalitionsvereinbarungen »abgewichen«.
Immer wieder wird offenbar, dass die israelische Regierungskoalition nur durch den Willen der beteiligten Parteien, an der Macht zu bleiben, zusammengehalten wird. Ansonsten haben sie wenig gemeinsam, immer wieder kommt es zu Konflikten zwischen Orthodoxen, Nationalreligiösen und säkularen Rechten.
Als im Juni der Oberste Gerichtshof die Ausnahmeregelung aufhob, die junge Charedim (ultraorthodoxe Juden) vom Militärdienst befreite, solange diese eine Yeshiva (Talmud-Schule) besuchen, war das nur möglich, weil die säkularen Parteien nach dem 7. Oktober wenig Interesse daran gezeigt hatten, ein Gesetz zu verabschieden, das dieses bislang immer nur auf Zeit verlängerte Privileg vorläufig aufrechterhält und erst schrittweise abbaut. Als im Juli die ersten 3.000 Charedim eingezogen werden sollten, meldete sich nur ein geringer Teil in den Kasernen. Aufgerufen zur Verweigerung hatte mit Shas auch eine Partei, die in der Regierung sitzt.
Verdacht der sexuellen Folter von palästinensischen Gefangen
Nachdem zehn Soldaten der Reserve wegen des dringenden Verdachts der sexuellen Folter von palästinensischen Gefangen festgenommen worden waren, hatten Ende Juli der Times of Israel zufolge »ultranationalistische Mobs« zwei Gefangenenlager der israelischen Armee zu stürmen versucht, um die Soldaten zu befreien. Unter den Angreifern befanden sich auch Abgeordneten der Knesset, Nissim Vaturi (Likud) und Zvi Sukkot von der nationalreligiösen Partei Miflaga Datit Leumit – HaTzionut HaDatit, sowie der Minister für nationales und religiöses Erbe, Amihai Eliyahu von Ben-Gvirs Partei Otzma Yehudit – allesamt Parteien aus dem Regierungsbündnis.
Zahlreiche Vertreter:innen der Opposition kritisierten den Sturm auf die Basen und vor allem die Beteiligung von Abgeordneten scharf. So sprach Oppositionsführer Yair Lapid (Yesh Atid) von einem »verabscheuungswürdigen und gefährlichen Verbrechen« und von einer existentiellen Bedrohung für den Staat Israel, sollte die jetzige Regierung noch länger im Amt bleiben.
Am 11. August gaben die Behörden bekannt, dass die Polizei gemeinsam mit der Militärpolizei Ermittlungen eingeleitet hat, wie es in einem Rechtsstaat zu erwarten ist. Dennoch mutmaßte Ben-Gvir, der Inlandsgeheimdienst Shin Bet habe die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara zu der Untersuchung gedrängt – er rekurriert dabei, ob bewusst oder unbewusst, auf die beliebte Verschwörungstheorie vom deep state.
Israel ist von Feinden umgeben, die Bedrohung ist größer denn je. Die Verteidigung ist jedoch keine rein militärische Angelegenheit, sie setzt einen Grundkonsens und die Verlässlichkeit rechtsstaatlicher Institutionen voraus.
Die Regierung Israels scheint derzeit aus Parteien und Politiker:innen zu bestehen, die allesamt die gegenwärtige politische Verfasstheit Israels zwar nicht in Gänze, wohl aber jeweils in wichtigen Teilen ablehnen. Die einen wollen den Laizismus überwinden, die anderen die gleichberechtigte Teilhabe arabischer Israelis und sie alle die Gewaltenteilung als Grundlage parlamentarischer Demokratie. Die Regierung treibt weiterhin, wenn auch im Stillen, die sogenannte Justizreform voran, die dem Obersten Gerichtshof die Möglichkeit nehmen würde, Gesetze aufzuheben, die gegen die basic laws verstoßen, die es in Israel anstelle eines Grundgesetzes oder einer Verfassung gibt.
Israel ist von Feinden umgeben, die Bedrohung ist größer denn je. Die Verteidigung ist jedoch keine rein militärische Angelegenheit, sie setzt einen Grundkonsens und die Verlässlichkeit rechtsstaatlicher Institutionen voraus.
Die Regierung besteht zu einem Gutteil aus Politiker:innen, die diesen Grundkonsens aufkündigen und rechtsstaatliche Prinzipien in Frage stellen; sie wird von einem Ministerpräsidenten geführt, dem eine Haftstrafe wegen Korruption droht, wenn er mit dem Amt die Immunität verliert. Doch die politischen Lager haben sich so verfestigt, dass auch Neuwahlen wohl keine schnelle Lösung brächten.
Die Opposition verliert an Zuspruch
Lapid schwingt als Oppositionsführer zwar große Reden, gäbe es Neuwahlen, würde seine Partei jedoch rund die Hälfte ihrer Sitze verlieren. Auch das Mitte-rechts-Bündnis von Benny Gantz, das im Oktober Umfragen zufolge noch mit Abstand stärkste Fraktion geworden wäre, verliert an Zuspruch.
Einer Umfrage von Anfang August zufolge würde Netanyahus Likud nun mehr Sitze erhalten als Gantz’ Bündnis HaMahane Hamamlachti. Für eine Regierungsmehrheit wäre der Likud wohl jedoch erneut auf jene Rechtsaußenparteien angewiesen, die das Land an den Rand des Abgrunds geführt haben. Wie stark die Kräfte im Likud sind, die davon und von Netanyahu die Nase voll haben und bereit zu einem zentristischen Kurs wären, ist völlig unklar.