Von den Socken
Der in mehreren westlichen Demokratien zu beobachtende Zerfall des traditionellen Parteiensystems schien bis vor wenigen Jahren an Deutschland weitgehend vorbeizugehen. Gewiss, da gab es den Aufstieg der AfD und in ostdeutschen Bundesländern erhebliche Abweichungen vom nationalen Durchschnitt. Wenn die Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen in etwa denen der Umfragen entsprechen, entsteht jedoch eine neue Konstellation, die vor allem die CDU vor große Probleme stellt.
Noch gilt offiziell der Parteibeschluss, der Koalitionen der CDU mit der Linkspartei ausschließt – eine auch aus konservativer Perspektive mittlerweile etwas aus der Zeit gefallene Regelung.
Die FDP gilt in beiden Bundesländern als chancenlos. Mit gut 30 Prozent ist die CDU in Sachsen die einzige verbliebene etablierte Partei, die eine Regierung ohne die AfD führen könnte. Falls SPD und Grüne es überhaupt in den Landtag schaffen, dürften sie dort jeweils kaum mehr als sechs Prozent der Wähler:innen repräsentieren. Die Linkspartei wiederum wird wohl zu viele Stimmen an das BSW verlieren wird, um über die Fünfprozenthürde zu kommen und in das sächsische Landesparlament einzuziehen.
In Thüringen hat die CDU etwas mehr als 20 Prozent zu erwarten, die SPD wird es vermutlich knapp in den Landtag schaffen, wahrscheinlich nicht hingegen die Grünen. Dort ist die Linkspartei mit rund 14 Prozent noch immer eine relevante Kraft. Das hat sie vor allem ihrem über die Parteigrenzen hinaus populären Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zu verdanken, der entsprechend auf Plakaten mit seinem Namen ohne das Logo der Linkspartei werben lässt.
Noch keine gemeinsame Regierung mit der AfD
Bei neuen Parteien sind Abweichungen der Wahl- von den Umfrageergebnissen oft größer, doch ein Erfolg des BSW (knapp 15 Prozent in Sachsen, 15 bis 20 Prozent in Thüringen) steht außer Frage. Wenn es also keine gemeinsame Regierung mit der AfD – wenigstens das scheint bei dieser Wahl noch gesichert – und keine Minderheitsregierung sein soll, dürfte die CDU in Sachsen um eine Koalition mit dem BSW nur herumkommen, wenn SPD und Grüne unerwartet erfolgreich sind. In Thüringen könnte es für eine Koalition von CDU, BSW und SPD gerade reichen. Sollte die SPD den Einzug in Thüringens Landesparlament verpassen wäre die Linkspartei wohl unentbehrlich für eine CDU-Regierung.
Noch aber gilt offiziell der Parteibeschluss, der Koalitionen der CDU mit der Linkspartei ausschließt – eine auch aus konservativer Perspektive mittlerweile etwas aus der Zeit gefallene Regelung. 1994 führte die Union den Bundestagswahlkampf mit einer Kampagne gegen »rote Socken«, der die PDS als Nachfolgepartei der SED mit totalitären Zielen darstellte. Das war schon damals demagogisch. 30 Jahre später, nach der Vereinigung mit der westdeutschen, gewerkschaftlich orientierten WASG 2007, vertritt die Linkspartei die Positionen einer linken Sozialdemokratie. Ein biederer »Landesvater« wie Ramelow eignet sich zudem so gar nicht für antikommunistische Angstmacherei.
Stärkere Distanz zu den USA
Die Zusammenarbeit mit dem BSW hält sich die CDU hingegen offen. Eine restriktive Migrationspolitik, die Förderung des sogenannten Mittelstands, Zurückhaltung in der Klimapolitik, der Kampf gegen Gender-Sternchen – die inhaltliche Übereinstimmung ist größer, als beide Seiten zugeben möchten. Aber während Ramelow bestimmt Zugeständnisse etwa in der Sozial- und Bildungspolitik fordern würde, ansonsten jedoch ein solider Koalitionspartner wäre, ist bei Sahra Wagenknecht unklar, welche Schwerpunkte sie setzen wird.
Im Wahlkampf des BSW dominierte das Thema »Friedenspolitik«, was faktisch die Forderung beinhaltet, die Unterstützung für die Ukraine zu beenden und auf stärkere Distanz zu den USA zu gehen. Die sächsische CDU wäre möglicherweise zu inhaltlichen Kompromissen diesbezüglich bereit, kann aber bestenfalls darauf rechnen, dass die CDU im Bund dies toleriert, nicht aber darauf, dass sie ihre Politik ändert.
Dass in Landtagen keine Bundespolitik gemacht wird, dürfte auch Wagenknecht wissen. Somit bleibt die Frage offen, ob sie sich nach der Wahl doch noch zu realitätsnahen Koalitionsverhandlungen bequemt oder das BSW erst einmal in zwei Landtagen als parlamentarische Protestpartei etablieren will, bis es im kommenden Wahljahr dann für bundespolitische Einflussnahme reicht.
Die Linkspartei ist in Thüringen nur noch im patriarchalen Landesvater-Modus halbwegs erfolgreich, SPD und Grüne sind weitgehend marginalisiert.
So oder so erwächst der CDU eine Konkurrenz im konservativen Kulturkampf. Die Linkspartei ist nur noch im patriarchalen Landesvater-Modus halbwegs erfolgreich, SPD und Grüne sind weitgehend marginalisiert. Im Kampf um die Stimmen der reaktionären Mehrheit zeigt Wagenknechts Partei Gespür für rechtspopulistische Themen – und anders als die CDU muss sie keine Rücksicht auf realpolitische Zwänge wie das transatlantische Bündnis nehmen.
Dass die Wähler:innen des BSW sowie jene der AfD sich offenkundig kaum für landespolitische Belange interessieren, zeigt einmal mehr, dass sie nicht gegen eine soziale Notlage protestieren, sondern gegen drohenden Statusverlust und zu viel Freiheit für »skurrile Minderheiten« (Wagenknecht) wie LGBT-Personen. Diese ideologische Haltung ist in beiden Bundesländern schon fast mehrheitsfähig. So dürfte der Appell der CDU in Sachsen und Thüringen, die Wähler:innen sollten sich doch besser daran orientieren, wer Problemlösungen zu bieten hat, ungehört verhallen.