Eine Perfomance über Nahtoderfahrungen im Silent Green

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: »Now Wave: Beth B – Glowing« im Wedding

»Überall in den gesellschaftlichen Problemen einer multikulturellen Stadt verbirgt sich die moralische Schwierigkeit, Sympathie zu wecken für die, die die anderen sind. Diese Sympathie kann nur entstehen, so glaube ich, wenn wir begreifen, warum der körperliche Schmerz einen Ort braucht, an dem er anerkannt wird und an dem seine transzendenten Ursprünge sichtbar werden. Solcher Schmerz hat eine bestimmte Bahn in der menschlichen Erfahrung. Er desorientiert und macht das Ich unvollständig, besiegt den Wunsch nach ­Kohärenz; der den Schmerz anerkennende Körper ist bereit, ein gesellschaftlicher Körper zu werden, empfindlich für den Schmerz einer anderen Person, für Schmerzen, die auf der Straße präsent sind.«

Ich muss an diese Passage am Ende von Richard Sennetts »Fleisch und Stein« denken, ein Buch, dass ich 1997 mit Begeisterung gelesen habe, während ich der Performance zusehe. Julia hat mich ins »Silent Green« im Wedding mitgeschleppt. Ihr Freund Nick Flynn ist in der Stadt. Sie kennt Nick seit ihrer College-Zeit Ende der Achtziger, lange bevor er als Autor Erfolg hatte und sein Roman »Another Bull­shit Night in Suck City« mit Robert De Niro (unter dem Titel »Being Flynn«) verfilmt wurde.

Nick wirkt an der Retrospektive »Now Wave: Beth B – Glowing« der Filmemacherin Beth B mit, die ­zuvor schon in New York City im Moma und in Paris im Centre Pompidou gezeigt wurde. Beth B macht seit 45 Jahren Filme. Bekannt wurde sie Ende der siebziger Jahre im Umfeld der New Yorker No-Wave-Szene. Wiederholt machte sie Filme mit Lydia Lunch, die auch in der einwöchigen Retrospek­tive auftritt.

Im Text von Nick Flynn geht es um ein Erlebnis in seiner Kindheit, als seine Mutter das Haus anzündete, indem sein Bruder und er schliefen. In der dazu gehörigen aufwendigen Videoprojektion springt Nick nackt in den See hinter seiner Scheune.

Das »Silent Green«, ein ehemaliges Krematorium, ist eine Kunstoase inmitten des lauten Wedding. Es ist der richtige Ort für diese Aufführung. Wir wandern zunächst durch Klang- und Videoinstallationen in der sogenannten Betonhalle, die Nahtoderfahrungen thematisieren. Am Ende werden wir dazu eingeladen, unsere eigenen Erlebnisse auf diesem Gebiet auf einen Zettel zu schreiben und in einem kleinen Raum an die Wand zu hängen. Was wir auch tun.

Dann beginnt die Show. Alle Mitwirkenden sind sehr gut ausgewählt, verkörpern authentisch ihr Trauma und bringen es in eigenen Texten kunstvoll zum Ausdruck.

Vincent Dubuis erscheint nackt auf der Bühne und erzählt von seinen Erlebnissen in der Psychiatrie. Als Nächstes singt Little Annie. Wunderschön und fragil. Es geht um Sucht. Little Annie, eine Ikone der New Yorker Underground-Szene, hat als Annie Anxiety Anfang der Achtziger zuerst auf Crass Records veröffentlicht und war später Haussängerin des Londoner Dub-­Labels On-U Sound Records.

Schmerz authentisch sicht- und fühlbar

Dann tritt Nick Flynn auf. In seinem Text geht es um ein Erlebnis in seiner Kindheit, als seine Mutter das Haus anzündete, indem sein Bruder und er schliefen. In der dazu gehörigen aufwendigen Videoprojektion springt Nick nackt in den See hinter seiner Scheune.

Auftritt Robbie. Er singt nicht, er schreit. Im Video gräbt er sich selbst ein Grab und schleppt sich kniend im Winter auf verschneiter Straße dahin. Es geht um Sucht.

Am Schluss dann die berührendste Performance. Die schwer körperbehinderte No Anger tanzt auf dem Boden. Sie kann nicht sprechen, aber ihre Texte machen klar, wie selbstbestimmt ihre Performance ist. Ihre Verletzlichkeit ist real.

Ich bin beeindruckt und bewegt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt eine Aufführung gesehen habe, in der Schmerz so authentisch sichtbar und fühlbar gemacht wurde. Ein Schmerz, den wir nachfühlen können und der uns berührt.