Der analytische Philosoph Tim Henning verteidigt die Autonomie des Denkens

Fortgesetzte Revision

Linke pflegen ein schwieriges und nicht selten herablassendes Verhältnis zur Wissenschaft, was sich auch in Debatten über die Wissenschaftsfreiheit immer wieder zeigt. Der Philosoph Tim Henning hat nun ein Buch über die Frage geschrieben, ob moralische Kritik an wissenschaftlichen Thesen legitim sein kann.

Man könnte den ideologischen Wandel der Linken anhand ihres Verhältnisses zur Wissenschaft beschreiben. Dieses ist heutzutage bestenfalls ambivalent: Zwar sind Klimawissenschaft und Ökologie überwiegend wohlgelitten, weil man sich auf sie berufen kann, um die eigene Weltrettungsmission zu beglaubigen; im Allgemeinen aber fremdelt man mit der Wissenschaft oder begegnet ihr, als vermeintlicher Stütze des Status quo, geradezu feindselig. Jüngeren Generationen dürfte als historisches Kuriosum erscheinen, dass Linke sich einmal in einer beinahe natürlichen Allianz mit der Wissenschaft wähnten und sich für ihr eigenes politisches Denken kein höheres Lob vorstellen konnten, als es wissenschaftlich zu nennen.

Ein gemeinsamer Bezugspunkt von Wissenschaft und Linken war das Denken der Aufklärung. Dieses mag im Geschichtsbild jüngerer Linker nur noch als kolonialrassistisches Projekt zur Legitimation des Weltherrschaftsanspruchs des weißen Cis-het-Mannes auftauchen, doch seinem Selbstverständnis nach wollte es alte Dogmen über den Haufen werfen und vorbehaltlosem kritischem Denken den Weg bereiten. Man sah sich der Vernunft, dem Streben nach objektiver Wahrheit und universellen Werten verpflichtet, wollte das Joch der Religion abschütteln und althergebrachte Vorurteile und Zwänge überwinden.

Lange wirkte zudem die humanistische Hoffnung nach, man müsse den Menschen nur Zugang zu Bildung verschaffen, um sie über kurz oder lang in die Lage zu versetzen, die Welt besser, also vernünftiger und menschlicher einzurichten. Heutzutage, da jeder mit seinem Smartphone auf das gesamte Wissen der Menschheit zugreifen kann, muss man schon froh sein, wenn jemand eigenständig ­beurteilen kann, dass hinter Covid-19-Pandemie und -Impfstoffen keine finstere Verschwörung steckt, die Erde keine Scheibe und die Hamas keine Befreiungsorganisation ist. Der Fortschrittsoptimismus ist jedenfalls perdu; unter Vernunft kann man sich längst nur noch die Diktate des Neoliberalismus vorstellen und unter Wahrheit nur Dogmen und verschleierte Machtansprüche.

Unbeliebt macht sich die Wissenschaft auch schlicht, weil sie Mühe erfordert. Man muss sich in sie einarbeiten und sie verlangt einem intellektuelle Demut ab.

Materialistisch betrachtet sollte das vielleicht nicht überraschen: Radikale Gesellschafts- und Ideologiekritik findet unter den heutigen Verhältnissen höchstens noch einen Platz als Pose in der letzten florierenden Kunstform, der Selbstinszenierung. Eine Pose aber wird kaum dadurch wirksamer, dass man sich mühsamer Detailarbeit widmet und komplizierte Fragen differenziert durchdenkt; am besten beherrschen sie vielmehr die Marktschreier der Kritik, die vor allem zwei Qualifikationen benötigen: die Bereitschaft, andere gnadenlos zu denunzieren, um so die eigene moralische Sendung zu demonstrieren; und einen pseudointellektuellen Jargon, der beeindruckt und zugleich in-group von out-group scheidet – hier die Community der Guten, die die Sprache der Guten beherrscht, da die Uneingeweihten und Außenstehenden, die entweder belehrt oder bekämpft werden müssen.

Unbeliebt macht sich die Wissenschaft auch schlicht, weil sie Mühe erfordert. Man muss sich in sie einarbeiten und sie verlangt einem intellektuelle Demut ab. Das lässt die Wissenschaft suspekt erscheinen: Wie kommt sie zu der Anmaßung, alles besser zu wissen, wie zu der elitären Auffassung, man müsse sich mit einem Thema ernsthaft auseinandersetzen, bevor man sich eine Meinung darüber bilden kann? Wo Demut geboten ist, fühlt man sich gedemütigt.

Attraktiver erscheinen da schon die intellektuellen Gegenangebote zum wissenschaftlichen Weltbild: eine bunte Palette von Totschlagargumenten und Sophismen, aus dem Denken von missverstandenen Aufklärern und halbverstandenen Gegenaufklärern gefleddert, mit denen man zu verstehen geben kann, auf einem geistigen Niveau zu operieren, das banaler Empirie und schnöder Rationalität enthoben ist. Was ist schon die naive Wahrheitssuche wissenschaftlicher Forschung gegen eine selbstgefällige Rhetorik, die den kritischen Anspruch der Wissenschaft überbietet, indem sie Wahrheit und Vernunft selbst als Götzen denunziert, in deren Dienst die Gedanken in Fesseln gelegt werden?

Die Wissenschaft diene nur der Legitimation der Machtverhältnisse, die sie hervorbringt, sei als Herrschaftswissen hoffnungslos korrumpiert, ihr Objektivitätsanspruch autoritär, ihr Universalismus eine Form von geistigem Imperialismus. Im Gegenzug erscheinen Religion, Esoterik, Tradi­tion und »authentische Kultur«, sofern sie nur nicht die des sogenannten jüdisch-christlichen Abendlands sind, nicht mehr als zu überwindende Unterdrückungssysteme, sondern als bedrängte Unterdrückte, sozusagen als kollektive »edle Wilde«, die es vor dem alles plattwalzenden »Westen« zu retten gilt.

Rechte wissen vom Niedergang der Linken stets zu profitieren und inszenieren sich als die letzten Verteidiger der Vernunft, der Wissenschaft und überhaupt der Errungenschaften der Aufklärung. Errungen wurden die historisch freilich allesamt gegen den erbitterten Widerstand der Rechten, wofür sich diese nun rächen, indem sie nur Worthülsen von ihnen übriglassen.

Man musste daher nicht lange suchen, um reaktionäre Tendenzen aufzuspüren, wenn in den vergangenen Jahren die Autonomie der Forschung immer wieder gegen »woke Cancel Culture« und aktivistisches »deplatforming« in Stellung gebracht wurde, zum Beispiel vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit.

Stärke analytischer Philosophie

Diese Debatten haben Tim Henning dazu veranlasst, sein neuestes Buch »Wissenschaftsfreiheit und Moral« zu schreiben. Er ist kein linker Aktivist, kein akademischer social justice warrior, sondern analytischer Philosoph, kommt also aus einer notorisch auf begriffliche Genauigkeit und methodische Seriosität bedachten akademischen Strömung, die auch die krea­tivsten Rechten kaum dem »Kulturmarxismus« zuschlagen werden. Gleichwohl sympathisiert er mit der wokeness, insofern sie in der öffent­lichen Debatte als das Lager der Menschenfreundlichkeit erscheint und für das Bestreben steht, bislang ignorierten und unterdrückten Gruppen eine Stimme zu verleihen.

Wenn Henning nun die Wissenschaftsfreiheit entschieden verteidigt, so tut er dies aus sachlichen Gründen und nicht, um sie für irgendwelche gesellschaftspolitischen Zwecke einzuspannen. Daher stellt sich ihm die Frage, was von der behaupteten woken Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit zu halten ist.

Henning ist versiert in theoretischer Arbeit und schreibt klar und sehr gut lesbar. Schwächen, oder wohlwollender gesagt: Grenzen des Buchs zeigen sich, wo man es von der analytischen Philosophie stets zu erwarten hat, also dort, wo politisches, historisches, gesellschafts- oder ideologiekritisches Denken gefragt wäre. Während Henning bei theoretischen Herleitungen aus guten Gründen nicht die Mühe scheut, auch das, was selbstverständlich erscheinen könnte, zu begründen und mit Einwänden zu konfrontieren, diskutiert er Fragen, die weniger die Theoriearchitektur als vielmehr reale ­gesellschaftliche Vorgänge betreffen, höchstens am Rande.

Die analytische Philosophie liebt es, im Lehnstuhl abstrakte Prinzipien abzuwägen und Gedankenexperimente anzustellen; wer beim Thema Wissenschaftsfreiheit etwas erfahren will über Machtverhältnisse an Universitätsinstituten, die Verflechtungen von Akademie und Kapital oder die Zwänge eines Betriebs, dessen leitende Alternative »publish or perish« lautet, muss anderswo suchen. Wer aber das Buch deshalb schon für belanglos und nicht lesenswert halten will, ­unterschätzt, wie wichtig und verdienstvoll die skrupulöse konzep­tionelle Klärung sein kann, welche die Stärke der analytischen Philosophie darstellt.

Die Wissenschaftsfreiheit

Wissenschaft, so die gängige Auffassung, die auch Henning teilt, muss autonom sein, damit sie ihre Funktion, Wissen zu erweitern, erfüllen kann. Diese Funktion impliziert, dass in der Wissenschaft ein ganz bestimmter Wert, nämlich Wahrheit, über allem steht. Forschung muss ­ergebnisoffen den Fragen nachgehen können, die im Lichte der Evidenz und der Theoriebildung relevant erscheinen.

Um es am beliebten Beispiel Galileo Galileis zu illustrieren: Eine noch so mächtige Kirche mag sich dogmatisch auf ein geozentrisches Weltbild festgelegt haben, und auch sonst mögen politische, spirituelle und allerlei sonstige Interessen diesem verpflichtet sein – die Wahrheitssuche kann darauf keine Rücksicht nehmen. Ob die Erde um die Sonne kreist oder umgekehrt, ist eine Tatsachenfrage, deren Antwort von den erwähnten Interessen unabhängig ist, und entsprechend muss auch die Wissenschaft unabhängig sein, um solche Tatsachen erforschen zu können.

Wenn also Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angefeindet werden, ihnen Podien oder gar Lehrstühle entzogen werden sollen, weil ihre wissenschaftlichen Thesen irgendwelche moralischen Empfindlichkeiten verletzen oder politisch unerwünscht sind, dann ist leicht zu verstehen, warum dies als eine besorgniserregende Verletzung der Wissenschaftsfreiheit erscheinen kann.

Das Wesen der Wissenschaft besteht in der immer neuen skeptischen Revision auch der Grundlagen des Wissens, der Ablehnung jedes Dogmas und der Neugier auf die Wunder der Welt.

Diesbezügliche Debatten, die selbstverständlich keine Erfindung einer woken Cancel Culture sind, sondern auch in früheren Zeiten immer ­wieder geführt wurden, zeigen allerdings auch, dass die Berufung auf Wissenschaftsfreiheit ein einfacher Weg für Akademiker sein kann, Kritik an (beispielsweise) rassistischen oder sexistischen Thesen für illegitim zu erklären. Dass Wissenschaftler nicht über die Vorurteile ihrer Zeit erhaben und ganz allgemein keine besseren Menschen sind, ist schließlich unbestreitbar. Immer wieder angeführt werden in diesem Zusammenhang einst weithin als wissenschaftlich anerkannte Thesen über die Ungleichheit vermeintlicher menschlicher »Rassen« oder den »physiologischen Schwachsinn des Weibes«.

Verfechter der Wissenschaftsfreiheit entgegnen darauf, dass derlei Lehren heutzutage gerade deshalb diskreditiert sind, weil der Fortschritt der Forschung sie als falsch und sogar unwissenschaftlich erwiesen hat. Dass Irrtümer verworfen werden und auch das Verständnis von Wissenschaftlichkeit selbst sich weiterentwickelt, offenbart nicht die Schwäche, sondern die Stärke der Wissenschaft: Deren Wesen besteht in der immer neuen skeptischen Revision auch der Grundlagen des Wissens, der Ablehnung jedes Dogmas und der Neugier auf die Wunder der Welt, auf all das, was sich unsere Schulweisheit (noch) nicht träumen lässt. Wissenschaft verdient Kritik demnach vor allem dann, wenn sie nicht wissenschaftlich genug ist.

Die Irrtumskosten

In diese Richtung zielt auch Henning, wobei er sich stark auf eine systematische Argumentation konzentriert und historische Aspekte außen vor lässt. Die Autonomie der Wissenschaft will er gänzlich unangetastet lassen: »Die Beurteilung und Kritik einer wissenschaftlichen These darf nur ­davon abhängen, ob sie den spezifischen Korrektheitsmaßstäben der Wissenschaft genügt.« Und: »(Nicht-)Übereinstimmung mit moralischen Überzeugungen ist kein Beleg für (wider) die Wahrheit einer deskriptiven These.«

Allerdings können, so Henning, wissenschaftliche Defizite zugleich zu moralischer Kritik Anlass geben. Wissenschaft als systematische Wahrheitssuche dient schließlich dazu, der Gesellschaft verlässliches Wissen bereitzustellen, und sie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie die unhintergehbare Möglichkeit zu irren methodisch berücksichtigt. Wenn eine Wissenschaftlerin behauptet, eine These stelle in ihrem Fachgebiet gesichertes Wissen dar, verbürgt sie sich also dafür, dass man keinen Fehler begeht, wenn man sich bei Entscheidungen auf die fragliche These verlässt. Sollte diese doch nicht gut genug begründet sein, handelt die Wissenschaftlerin fahrlässig und ­somit nicht nur wissenschaftlich, sondern auch moralisch kritikwürdig.

Eine These muss dabei, so Henning weiter, umso besser begründet sein, je höher die Irrtumskosten sind, je schädlicher es sich also auswirken könnte, die These fälschlich als gesichert anzusehen. Um eine Analogie zu bemühen: Ein Passagierflugzeug muss man gründlicher prüfen als ein Modellflugzeug, bevor man es abheben lässt, nicht weil das eine leichter abstürzt als das andere, sondern weil ein Absturz im einen Fall deutlich schlimmere Folgen hätte als im anderen.

Gute und schlechte Thesen

Dieser zentrale Argumentationsschritt Hennings ist überaus plausibel, doch ergeben sich daraus Anschlussfragen. Wenn Wissenschaftler schlecht belegte Thesen vertreten, behaupten sie ja in aller Regel nicht: »Meine These ist zwar schlecht ­belegt, aber trotzdem richtig.« Auch darüber, wie gut eine These belegt ist, gibt es hartnäckige Meinungsverschiedenheiten, und mitunter erweist sich in solchen Fällen auch die Mehrheitsmeinung des wissenschaftlichen Establishments als falsch. Henning geht diesem wenn nicht in theoretischer, so doch zumindest in praktischer Hinsicht bedeutenden Problem leider nicht weiter nach.

Nachdem Henning diesen (hier freilich nur grob skizzierten) theoretischen Rahmen hergeleitet und ­ausformuliert hat, erprobt er ihn an drei Beispielen. Das erste entnimmt er Arthur R. Jensen, Richard J. Herrnstein und Charles Murray, denen er die These zuschreibt: »Schwarze Menschen haben genetisch bedingt durchschnittlich einen geringeren IQ.« Wer derlei behauptet, sieht sich, so Henning, zu Recht sowohl fachlicher als auch moralischer Kritik ausgesetzt, weil (wie er darlegt) die Belege für diese These ausgesprochen schlecht sind, wohingegen die mit der These verbundenen Irrtumskosten in einer ganzen Vielzahl von Hinsichten überaus erheblich sind – und in besonderem Ausmaß Menschen treffen, die ohnehin schon in moralisch empörender Weise gesellschaftlich benachteiligt sind.

Dabei ordnet Henning den zur Debatte stehenden Positionen recht holzschnittartig politische Implikationen zu: Gäbe es keine nennenswerten genetisch bedingten IQ-Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen, folge daraus eine Politik, die »Gleichheit anstrebt«; andernfalls hingegen eine, die »Ungleichheit akzeptiert«. Wer sich mit politischer Praxis oder auch nur Theorie beschäftigt, muss dies als allzu oberflächlich, wenn nicht gar realitätsfremd, und zudem als inhaltlich vieldeutig monieren. Nur berührt dieser Einwand Hennings Argument kaum, weil es für dieses nicht auf die genaue Art und Weise ankommt, in der Irrtumskosten entstehen, sondern auf die von ihm zweifellos korrekt eingeschätzte Tatsache, dass sie sehr gravierend sind.

Den zweiten Anwendungsfall liefert die Kathleen Stock und Alex Byrne zugeschriebene These: »Der Begriff der Frau trifft nur auf biologisch weibliche Erwachsene zu.« Dabei gehe es Henning lediglich um »den faktischen Begriff« im Gegensatz zu »der normativen Frage, was unser Begriff der Frau sein sollte«. Sieht man aber von dieser normativen Frage ab, so erscheint unklar, von welchem weiterreichenden Interesse es denn sein soll, welche Definition von Frau der faktische Sprachgebrauch zugrunde legt. Schließlich muss dieser von vornherein als vielgestaltig, unpräzise und nicht zuletzt hochgradig veränderlich gelten. In einer innerfeministischen Debatte über Transgeschlechtlichkeit dürfte zudem wenig kontrovers sein, dass überkommene Begrifflichkeiten kritischer Reflexion bedürfen, weil ihnen patriarchale Machtverhältnisse und Vorurteile eingeschrieben sind. Ein nicht unerheblicher Teil von Hennings Argumentation in diesem Abschnitt ergibt denn auch wenig mehr als die Banalität, dass von der Entscheidung für diese oder jene Definition von Frau nur abhängt, wie man bestimmte Fragen sprachlich zu formulieren hat, nicht aber, wie sie inhaltlich zu beantworten sind.

Das dritte Anwendungsbeispiel beschäftigt sich mit einer These des utilitaristischen Philosophen Peter Singer, die Henning so formuliert: »Neugeborene mit schweren Behinderungen haben keine Interessen, die ihre Tötung absolut verbieten.« Ohne auf Hennings Diskussion hier­zu näher eingehen zu wollen, lässt sich eine Schwierigkeit hervorheben, die in diesem Abschnitt zutage tritt: Die Irrtumskosten sollen nämlich »rein prudentiell bewertet werden, also im Lichte des aufgeklärten Eigeninteresses der Betroffenen«. Diese Einschränkung soll die »Autarkie des Epistemischen« wahren, also die Unabhängigkeit zulässiger Kritik von (zwangsläufig kontroversen) moralischen Voraussetzungen. Aber das Konzept eines rein prudentiellen Eigeninteresses, das sich unabhängig von jeder moralisch gehaltvollen Vorannahme feststellen lässt, ist kontrovers und hätte mindestens einer Erläuterung bedurft.

Das führt auf ein tieferliegendes Problem: Wenn Henning sich auf Irrtumskosten beruft, müssen diese an einem normativen Maßstab bemessen werden, der andere Werte als die Wahrheit betrifft; dieser Maßstab muss also irgendwie definiert und in ein Verhältnis zu den rein wahrheitsorientierten Normen der Theorie gesetzt werden. Beides kann Hennings Ansatz, so scheint es, allein nicht leisten. Einer materialistischen Sichtweise zufolge läge die Lösung darin, Wissenschaft nicht als ein Unterfangen zu verstehen, das als autonome und autarke Theorie einzig auf eine akkurate Beschreibung der Tatsachen abzielt, sondern als eine Form von Praxis, der Menschen in einem konkreten, historisch situierten gesellschaftlichen Rahmen nachgehen.

Insgesamt hat Henning eine gründliche, zugängliche und vor allem nüchterne wissenschaftstheoretische Studie vorgelegt. Sie lässt politische und soziologische Fragen beiseite und beansprucht nicht, vollkommen neue Perspektiven auf das Thema zu eröffnen, nähert sich diesem aber sachlich und differenziert. Zu empfehlen ist das Buch allen, die sich für eine theoretische Reflexion der Debatte über Wissenschaftsfreiheit interessieren, in der die Argumente beider Seiten ernst genommen ­werden.


Tim Henning Buchcover

Tim Henning: Wissenschaftsfreiheit und Moral. Suhrkamp, Berlin 2024, 319 Seiten, 30 Euro