Taxi in die Vergangenheit
»Welcher Jude fährt als Tourist nach Polen?« fragt der Holocaust-Überlebende Edek Rothwax (Stephen Fry) entgeistert seine Tochter Ruth (Lena Dunham), die wild entschlossen ist, auf der gemeinsamen Reise nicht nur mehr über die Vergangenheit ihrer Familie herauszufinden, sondern auch die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau zu besuchen. Der in Łódź geborene Vater, der wie seine kürzlich verstorbene Ehefrau das Vernichtungslager überlebt hat, möchte das Geschehene dagegen ruhen lassen. Dennoch begleitet der Witwer seine Tochter auf den von ihr akribisch geplanten Trip ins postkommunistische Polen des Jahres 1991, das an Trostlosigkeit kaum zu überbieten ist.
Die deutsche Filmemacherin Julia von Heinz schließt mit dem Film »Treasure«, der auf Lily Bretts semiautobiographischem Roman »Zu viele Männer« basiert, ihre »Aftermath«-Trilogie ab, die sich mit den Auswirkungen des Holocaust auf die nachfolgenden Generationen beschäftigt. 2013 erschien ihre Komödie »Hannas Reise«, in der eine BWL-Studentin ihren Lebenslauf durch ein Praktikum in einem Dorf für Behinderte in Tel Aviv aufzupeppen versucht. 2020 folgte das Antifa-Drama »Und morgen die ganze Welt«, in dem eine Jurastudentin sich dem Rechtsruck in Deutschland entgegenstellen möchte, sich einem antifaschistischen Hausbesetzerprojekt anschließt und immer radikaler wird.
Man fühlt man sich von der Figurenkonstellation deutlich an das Gespann aus skurrilem Vater und kontrollierter Tochter in Maren Ades Komödie »Toni Erdmann« erinnert; doch Heinz’ Film ist weniger auf den Punkt hin und konventioneller inszeniert.
»Treasure« verbindet Dramödie und Roadmovie. Im Vordergrund stehen die universellen Probleme zwischen alternden Vätern und ihren erwachsenen Töchtern, im Hintergrund geht es um die Schrecken des Holocaust, die das Leben einer jüdischen Familie auf unterschiedliche Weise prägen.
Kein einfaches Unterfangen also: Tatsächlich fühlt man sich von der Figurenkonstellation deutlich an das Gespann aus skurrilem Vater und kontrollierter Tochter in Maren Ades Komödie »Toni Erdmann« erinnert; doch Heinz’ Film ist weniger auf den Punkt hin und konventioneller inszeniert.
Dennoch berührt die Beziehungsgeschichte, auch wenn der britische Komiker Fry die Schrulligkeit gelegentlich übertreibt. Man nimmt ihm zwar ab, dass Polnisch seine Muttersprache ist, den Exil-New-Yorker glaubt man ihm schon weniger. Fry hat einen sehr persönlichen Bezug zu seiner Rolle. Wie sich der Schauspieler auf die Suche nach seinen jüdischen Wurzeln begeben hat, lässt sich in sieben Folgen der Serie »Who Do You Think You Are?« auf Youtube verfolgen.
Auch Dunham hat als Jüdin, deren Urgroßvater in Łódź geboren ist, eine eigene Verbindung zu ihrer Figur als depressive New Yorker Musikjournalistin. Ruth, die von ihrem warmherzigen, aber häufig auch unsensiblen Vater den Kosenamen »Pumpkin« verpasst bekommen hat, kämpft mit Gewichtsproblemen, Selbsthass und einer gescheiterten Ehe. Nicht nur das. Die 36jährige ist traumatisiert durch das verdrängte und beschwiegene Leid, das ihren Eltern in der Vergangenheit widerfuhr. Nicht nur der Koffer, in dem sie antisemitische Nazi-Bücher herumschleppt, die sie abends im Hotelzimmer liest, wiegt schwer. Die Eltern haben nie über die Vergangenheit geredet, doch als Kind hörte sie, wie ihre Mutter jede Nacht schreiend aufwachte.
Edek dagegen, der ähnlich wie Toni Erdmann recht ungepflegt herumläuft, möchte sich nur noch auf der Sonnenseite des Lebens aufhalten. So plaudert er fröhlich mit dem spontan von ihm für ihre Reise engagierten Taxifahrer Stefan, der wunderbar zurückgenommen von dem bekannten polnischen Schauspieler Zbiegniew Zamachowski gespielt wird.
Zudem flirtet Edek gerne und nimmt kein Blatt vor den Mund, vor allem nicht, wenn es um seine Tochter geht. Nicht nur, dass er in seiner Übergriffigkeit Fremden aus Ruths Privatleben erzählt, beim gemeinsamen Frühstück kommentiert er auch abschätzig Ruths aus New York mitgebrachtes Müsli und die Trennung von ihrem Ex-Mann Garth, um dann noch offen zuzugeben, dass er immer noch Kontakt mit ihm hält. Zudem sabotiert er immer wieder Ruths sorgfältig ausgeklügelte Tour.
»Treasure« wirkt hektisch und unüberlegt zusammengeschnitten
Warum die Tochter nicht auf Anhieb begreift, aus welchen Gründen der 1940 nach Auschwitz deportierte Edek in Polen partout nicht in einen Zug steigen will, ist eine der Schwächen des Drehbuchs. Auch die parallel zum Trip erzählte Geschichte einer Miss-Wahl sowie die Szenen, in denen sich Ruth nach und nach eine Nummer in den Arm tätowiert oder sich beim Joggen verirrt, wirken deplatziert und nicht auserzählt.
Womöglich ist dies den Produktionsbedingungen geschuldet. Kurz vor Drehstart im Februar 2023 infizierten sich Schauspieler:innen und Teile der Crew mit dem Coronavirus. Zudem konnten Fry und Dunham aufgrund des Schauspielerstreiks in den USA ein halbes Jahr nicht an den geplanten nachträglichen Sprachaufnahmen teilnehmen. Deshalb beschloss das Team, sich mit der Fertigstellung des Films Zeit zu lassen. Nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober entschied man sich aufgrund der beklemmenden Aktualität, den Film bereits zur Berlinale fertigzustellen. Insgesamt wirkt »Treasure« deshalb wohl hektisch und etwas unüberlegt zusammengeschnitten.
Keine polnische Fördergelder
Zur Verwunderung der Macher:innen erhielt der Film auch keine polnischen Fördergelder. Die Gründe, die die polnische Filmförderung für ihre Ablehnung geltend machte, wirken fadenscheinig. Vermutlich befürchteten man den Vorwurf der rechten damaligen PiS-Regierung, einen Film zu fördern, der antipolnische Propaganda betreibe.
Konkret geht es um die Szenen, in denen Ruth und Edek das Wohnhaus aufsuchen, in dem der Vater aufgewachsen ist. Widerwillig und nur gegen Bezahlung lassen die jetzigen Bewohner sie ein. Als die beiden sich umschauen, stellen sie fest, dass die ärmliche Familie und ihre Nachkommen noch über Teile des alten Inventars verfügen: die Couch, eine Silberschale, ein Teeservice. Edek weigert sich allerdings, wie von den Bewohnern gefordert für die Herausgabe der Erinnerungsstücke zu bezahlen, doch Ruth kehrt kurz darauf noch einmal mit einem Englisch sprechenden Pagen aus dem Hotel dorthin zurück und zahlt einen hohen Preis für die Familienstücke.
Edek ist empört und behauptet, Ruth habe sich in Gefahr gebracht: Sie hätte von den neuen Besitzern ermordet werden können, wie 1946 einige Juden, die ihre Wohnungen wieder beziehen wollten.
Jene Szenen, in denen Ruth und Edek zur Gedenkstätte des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau fahren – Heinz erhielt die seltene Drehgenehmigung für Außenaufnahmen –, hallen lange nach.
Jene Szenen, in denen Ruth und Edek zur Gedenkstätte des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau fahren – Heinz erhielt die seltene Drehgenehmigung für Außenaufnahmen –, hallen lange nach. Edek erkennt genau die Stelle wieder, an der er von seiner Familie getrennt wurde und sie zum letzten Mal sah. Die Rückkehr an den Ort der Vernichtung bringt Edek, der zeitlebens mit den Schuldgefühlen des Überlebenden gekämpft hat, dazu, über Verdrängtes zu reden. Dies führt zu einer berührenden Annäherung zwischen Vater und Tochter. Trotz einiger Schwächen ist »Treasure« ein sehenswerter Film über verdrängtes Leid, das an die nachkommenden Generationen weitergereicht wird.
Treasure (D/F 2023). Buch: Julia von Heinz und John Quester. Regie: Julia von Heinz, Darsteller: Lena Dunham, Stephen Fry, Zbiegniew Zamachowski. Filmstart: 12. September