Stühlerücken in Kiew
Kamjanske. Als in den vergangenen Wochen ukrainische Medien über einen kommenden »großen Neustart« in der ukrainischen Regierung spekulierten, erwarteten viele Beobachter sogar einen Rücktritt des Ministerpräsidenten Denys Schmyhal. In den Augen vieler hat dessen Kabinett längst jegliches politisches Gewicht verloren, während Wolodymyr Selenskyj und dessen Präsidialamt die Regierungsgeschäfte weitestgehend bestimmen; zudem gibt es Kritik an der Fähigkeit des Kabinetts, seine Aufgaben zu bewältigen. Julija Swyrydenko, Wirtschaftsministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin, wurde als eine Hauptanwärterin für Schmyhals Posten genannt. Sie ist eng mit Andrij Jermak, dem Leiter des Präsidialamts, verbunden. Dieser gilt in der Ukraine zunehmend als die »graue Eminenz«, da er die Regierungsgeschäfte weitestgehend kontrolliere. Tatsächlich entscheidet das Präsidialamt de facto über die Wirtschaftspolitik.
Ebenfalls als mögliche Ministerpräsidentin wurde Oksana Markarowa gehandelt, ehemalige Finanzministerin und seit 2021 Botschafterin in den USA. Sie genießt starke Unterstützung aus dem Westen, was der Regierung hätte helfen können, in der sich verschärfenden Wirtschafts- und Finanzkrise notwendige Mittel aufzubringen. Markarowa gilt in der ukrainischen Politik jedoch als ziemlich unabhängig von Selenskyj und seiner Partei »Diener des Volkes«.
Im letzten Moment wurde die Idee, den Regierungsleiter auszuwechseln, jedoch aufgegeben. Infolgedessen brachte der »große Regierungsumbau« zwar einige personelle Veränderungen im Kabinett, doch dürften insbesondere die Wirtschafts- und Sozialpolitik unverändert bleiben. Alle für diese Bereiche verantwortlichen Minister blieben im Amt.
Es wird darüber diskutiert, ein Ministerium für die Rückkehr von Ukrainern einzurichten. Das hat überraschte und auch sarkastische Reaktionen in der ukrainischen Öffentlichkeit hervorgerufen.
Die wichtigste Umbesetzung betrifft das Außenministerium: Dmytro Kuleba trat zurück, der Berufsdiplomat Andrij Sybiha ist sein Nachfolger. Dieser ist ein ehemaliger Mitschüler von Andrij Jermak und war bereits im April aus dem Präsidialamt in die Regierung gewechselt, wo er zunächst stellvertretender Außenminister wurde. Unmittelbar danach unterzeichnete er die Anordnung, konsularische Dienstleistungen für alle ukrainischen Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, die sich im Ausland aufhalten, auszusetzen. Das betrifft auch diejenigen, die in Deutschland und anderen EU-Ländern vorübergehenden Schutz erhalten haben. Sie können seither beispielsweise keine Reisepässe mehr beantragen, ohne in die Ukraine zurückzukehren. Dies wurde damit begründet, dass die Männer dort Wehrdienst leisten müssten.
Anscheinend waren unzureichende Ergebnisse in der Außenpolitik das Hauptmotiv für die Regierungsumbildung. Auch die Schaffung eines Ministeriums für strategische Kommunikation war erwogen worden. Stattdessen wurde beschlossen, diese Aufgabe dem Kulturministerium zu übertragen und es in Ministerium für Kultur und strategische Kommunikation umzubenennen. Dieses Ministerium leitet nun Mykola Totschyzkyj, der zuvor im Präsidialamt einer der Stellvertreter Jermaks war.
Opposition zeigt sich enttäuscht
In der Regierungspartei »Diener des Volkes« wird außerdem darüber diskutiert, ein Ministerium für die Rückkehr von Ukrainern einzurichten. Das hat überraschte und auch sarkastische Reaktionen in der ukrainischen Öffentlichkeit hervorgerufen. Es ist unklar, wie ein solches Ministerium Flüchtlinge in die Ukraine zurückbringen soll, solange die Wirtschaftskrise ungemindert anhält und die Wirtschaftspolitik nicht geändert wird, aufgrund derer die Gehälter und Sozialleistungen stagnieren und die Armut wächst, während die Bevölkerung wegen der systematischen russischen Zerstörung des Energiesektors vor einem mutmaßlich katastrophalen Winter steht. Und der Krieg, der Millionen von Ukrainern als Flüchtlinge in die EU getrieben hat, ist natürlich ebenfalls nicht verschwunden.
Die parlamentarische Opposition zeigte sich enttäuscht über die Ergebnisse des »großen Neustarts«. Seit langem spricht sie von der Notwendigkeit einer Koalitionsregierung, einem sogenannten Kriegskabinett, das alle wichtigen Fraktionen des Parlaments vereinen würde. Stattdessen, so die Opposition, dehne das Präsidialamts seine Macht immer weiter aus.
Iwanna Klympusch-Zynzadse, die Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses für europäische und euroatlantische Integration und Mitglied der Oppositionsfraktion »Europäische Solidarität« des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko, kritisierte im Parlament die Regierung: »Über die Jahre haben wir Ergebnisse erzielt, die uns zu den heutigen EU-Beitrittsverhandlungen geführt haben. Aber aus irgendeinem Grund hören wir nicht, dass die stellvertretende Ministerpräsidentin für europäische und euroatlantische Integration (Olha Stefanischyna; Anm. d. Red.) sich heute klar für die Einhaltung der ›Kopenhagener Kriterien‹, gegen die Zentralisierung der Macht in der Ukraine, gegen die Zerstörung der demokratischen Grundlagen und Freiheiten, gegen die Zerstörung der Meinungsfreiheit aussprechen würde.«
Übermäßige Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten
Kritik daran, dass Präsident Selenskyj mehr Kontrolle über die Medien anstrebe und die Regierung vom Präsidialamt aus steuere, gibt es schon länger. Anfangs waren Selenskyjs Ambitionen bis zu einem gewissen Grad mit militärischen Notwendigkeiten zu rechtfertigen. Auch angesichts des offiziellen Beginns der EU-Beitrittsverhandlungen im Juni weist die Opposition inzwischen jedoch deutlicher auf die übermäßige Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten hin. Diese stehe im Widerspruch dazu, dass die Ukraine eine parlamentarisch-präsidentielle Republik sei.
Sowohl das Kabinett als auch das Parlament haben stark an Kompetenzen verloren. Der Bedeutungsverlust des Parlaments zeigte sich anschaulich, als mehrere zurückgetretene Regierungsmitglieder nicht wie erwartet vor dem Parlament erschienen, um über ihre Arbeit Rechenschaft abzulegen, obwohl dieses ihrer Entlassung zustimmen musste. Auch die Vorstellung der neuen Kandidaten im Parlament durch den Ministerpräsident habe dieser zu einer reinen Formalie degradiert, kritisierten später Abgeordnete. Nach Ansicht der Oppositionsabgeordneten schade die Machtkonzentration in den Händen Selenskyjs der verfassungsmäßigen Kräftebalance in der Exekutive und bringe das Land an den Rand einer autoritären Herrschaft.