Vielen Ärzten fällt es schwer, Fortbildung und Produktwerbung zu unterscheiden

Im Zweifel fürs Verzweifeln

So mancher Arzt hält sich für völlig unbestechlich. So ganz trifft das allerdings selten zu. Und selbst wenn, bleiben da noch die obligatorischen Fortbildungsveranstaltungen, bei denen nicht immer ersichtlich ist, inwieweit die Pharma­industrie sie beeinflusst. Eine gesundheitspolitische Kolumne.

In einer ruhigen Minute denkt der Hausarzt daran, dass er schon lange keine Fortbildung mehr besucht hat. Dann kommt er ins Grübeln: Weiß er denn genug? Weiß er auch, was er nicht weiß? Und ist das, was er weiß, noch aktuell? Sollte er nicht mehr wissen? Wissen seine Kollegen mehr als er? Und denken sie auch, dass sie mehr wissen sollten?

Oder einmal andersherum ausgedrückt: Wie kommt eigentlich das Wissen in den Arzt? Und wie das Wissen des Arztes an den Patienten? Und weiß der Patient eigentlich, wie viel der Arzt nicht weiß, und will er das überhaupt so genau wissen? Das sind alles hochkomplexe Fragen, die den Rahmen der Kolumne sprengen.

Für den Hausarzt bleibt es kompliziert

Für den Hausarzt bleibt es jedenfalls kompliziert, auch wenn viele derjenigen, von denen sie ihr Wissen beziehen, vorgeben, alles zu wissen. Denn das Problem ist: Letztere werden dafür bezahlt, ihr Wissen so anzupassen, dass es dem Profit und den Aktienkursen ihrer Geldgeber dienlich ist.

Wissen ist Macht. Aber auch Geld ist Macht. Und so kommt es, dass zum Beispiel an einer Vielzahl kardiologischer Leitlinien Kollegen beteiligt waren, die von Pharmaunternehmen, Geräteherstellern oder Klinikkonzernen bezahlt werden. Das Internetportal »Leitlinien Watch« warnt daher vor deren Anwendung. Auch dem kritischen Hausarzt gelten solche Informationen als korrumpiert, aber er weiß, dass dennoch auf ihrer Grundlage Millionen herzkranker Menschen behandelt werden.

Mit Ausnahme der Autohersteller hat wohl kaum eine Branche so gute Lobbykontakte wie die Pharmaindustrie. 

Mit Ausnahme der Autohersteller hat wohl kaum eine Branche so gute Lobbykontakte wie die Pharmaindustrie. Und so preisen Professoren Medikamente, die für den Patienten von zweifelhaftem, für die eigenen Einkünfte aber von eindeutigem Nutzen sind. Als eine Art seriös auftretender Influencer halten sie Vorträge auf Ärztekongressen, veröffentlichen Artikel und loben dort die Produkte ihrer Auftraggeber, während sie die der Konkurrenz verteufeln. Ein wenig wie auf dem Hamburger Fischmarkt.

Wie alle Ärzte ist auch der Hausarzt verpflichtet, Fortbildungen zu besuchen. Den dafür zuständigen Ärztekammern ist es jedoch oft egal, wer diese mit welchem Interesse organisiert. Häufig ist der Einfluss von Pharmafirmen auf Fortbildungsveranstaltungen nicht ersichtlich, da die Referenten ihn verschweigen. Auf anderen Veranstaltungen wird ganz offen den fördernden Unternehmen gedankt.

Mehrheit aller Ärzte hält sich für unbestechlich

Aber muss denn der Hausarzt immer alles schlechtmachen? Neidet er seinen Kollegen schöne, von der Pharmaindustrie bezahlte Fortbildungserlebnisse? So einfach ist es leider nicht, denn die Mehrheit aller Ärzte glaubt nach einem Bericht der unabhängigen Zeitschrift Arzneitelegramm, immun gegen Pharmawerbung und Geschenke pharmazeutischer Unternehmen zu sein.

Obwohl das ­Gegenteil in vielen Studien längst bewiesen ist, halten sie sich dennoch für unbestechlich. Das wiederum ist für äußerst nützlich für jene, die sie beeinflussen und instrumentalisieren wollen. Denn das wenigstens weiß der Hausarzt bestimmt: Am leichtesten sind die­jenigen seiner Kollegen zu manipulieren, die sich für integer halten.

Überflüssige Medikamente und Behandlungen

Zum Glück sind einige wenige neue Medikamente wirklich gut. Bei vielen anderen weiß man es einfach nicht ­genau. Viele Studien werden gar nicht erst veröffentlicht; vermutlich weil sie nicht das gewünschte Ergebnis gebracht haben? Eine Analyse der von US-Regierungsinstitutionen betriebenen Datenbank Clinicaltrials.gov hat ergeben, dass sich bei circa 45 Prozent aller registrierten klinischen Studien auch zwei Jahre nach Abschluss nirgends Ergebnisse finden lassen. An diesen haben demnach immerhin über acht Millionen Menschen teilgenommen. Man nennt das Publikationsbias.

Der Hausarzt hat sich inzwischen wieder gefangen und trinkt einen starken Kaffee. Vor wenigen Jahren hat er noch von dessen Konsum abgeraten. Seit einer Fortbildung weiß er, dass das falsch war, und empfiehlt jetzt das Gegenteil. Viel wichtiger aber ist für ihn die Frage: Auf welcher Wissensgrundlage kann er Patienten vor überflüssigen Medikamenten und Behandlungen bewahren?

Er ­erinnert sich an die Handvoll pharmakritischer Publikationen wie Der Arzneimittelbrief oder Gute Pillen – Schlechte Pillen, die seit Jahren ihm und seinen Patienten unabhängige Informationen bereitstellen. Dort hat das gekaufte Wissen keinen Platz, da ist seine Welt in Ordnung und da kann er auch in Ruhe nachlesen, was er alles nicht weiß, und manchmal daran verzweifeln.