Roland Klicks actiongeladenes Sozialdrama »Supermarkt« von 1974 kommt wieder ins Kino

Durchs Leben hetzen

Zum 50. Kinojubiläum von Roland Klicks »Supermarkt« kommt der Film in einer restaurierten Fassung erneut in die Kinos – und hat nichts von seiner kalten Wucht verloren.

Willi (Charly Wierzejewski) ist dünn und blass, eine verwahrloste und verschlossene Gestalt an der Schwelle zum Erwachsensein, die sich im Milieu der Stricher, Drogenabhängigen und Kleinganoven in Sankt Pauli durchschlägt. Das Erste, was man von ihm mitbekommt, ist, dass er sich in der Toilette einer Bar wäscht und anschließend an der Theke ein paar Groschen Trinkgeld von einem Teller klaut, nur um sie sofort wieder zu verlieren. Kurz darauf flieht er vor einer Polizeistreife, wird festgenommen und landet auf einer Hamburger Wache. Hier herrschen Gedränge und Durcheinander, denn Willi ist kein Einzelfall. Er entkommt dem Polizeigewahrsam und taucht unter.

Roland Klicks 1974 uraufgeführter Film »Supermarkt« spielt in den frühen siebziger Jahren in einer Bundesrepublik, die Züge einer erstarrten, mehrheitlich freudlosen Klassengesellschaft trägt. Jugendamtsmitarbeiter mühen sich nach Kräften, die von ihnen als arbeitsscheues Gesindel klassifiziertem jungen Männer in die Jobs zurückzudrängen, denen sie gerade entflohen sind, Beamte veranlassen die Einweisung in Heime für Schwererziehbare. Journalisten geben sich auf der Suche nach der Story verständnisvoll und versuchen mit den Langhaarigen ins Gespräch zu kommen.

Klick empfand den Autorenfilm seiner Zeit als zu abgehoben, belehrend und steril. Er monierte, dass dieses Kino vor allem für den Zuschauer im intellektuellen Elfenbeinturm gedacht und gemacht werde.

Willi rennt indes weiter durch die Hinterhöfe und Kneipen der Stadt, ohne Aussicht darauf, länger als für ein paar Augenblicke zur Ruhe zu kommen. Erst als er Monika (Eva Mattes) kennenlernt, eine Prostituierte, die in der rauen Hierarchie des Kiezes noch unter ihm steht, beginnt Willi, nach einem Ausweg aus der Misere zu suchen. Dass der in einer Welt, in der alles vom Geld abhängt, in einem befreienden Coup, einem Einkauf mit »eiserner Scheckkarte« (Roland Klick) bestehen kann, ist gleichermaßen dem Filmgenre wie der Ausweglosigkeit der Lage geschuldet.

Bis es so weit ist, geht allerdings das Gerenne weiter. Ständig mischt sich Willi unter neue Mengen und knüpft kurzfristige Beziehungen – und tritt wieder aus ihnen heraus. Die Kamera – geführt von Jost Vacano, der später für die spektakulären Kamerafahrten in Wolfgang Petersens »Das Boot« verantwortlich war – muss durchgängig in Bewegung bleiben, um diesen Protagonisten nicht aus dem Bild zu verlieren.

Roland Klick ein Außenseiter des jungen deutschen Films

Vier Jahre nach dem Endzeitwestern »Deadlock« (1970) gelang Roland Klick (Jahrgang 1939) mit »Supermarkt« der Durchbruch. Galt der Regisseur von seinen Anfängen mit Kurzfilmen und dem ersten, verstörenden Spielfilm »Bübchen« (1968), in dem ein Zehnjähriger seine kleine Schwester tötet, zunächst als filmisches Wunderkind und Hoffnung des deutschen Films, fiel er bei der Kritik – und, wichtiger noch, der Filmförderung – mit seinen Arbeiten bald in Ungnade. Obwohl er mehrere Bundesfilmpreise gewann und die wenigen Filme, die er nach vielen Absagen und zähem Ringen mit Produzenten und Redakteuren ins Kino brachte, durchaus ihre Produktionskosten und mehr wieder einspielten, blieb er ein Außenseiter des jungen deutschen Films.

Willi (Charly Wierzejewski) und Monika (Eva Mattes)

Willi (Charly Wierzejewski) und Monika (Eva Mattes)

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Filmalerie 451

Klick seinerseits empfand den Autorenfilm seiner Zeit als zu abgehoben, belehrend und steril. Er monierte, dass dieses Kino vor allem für den Zuschauer im intellektuellen Elfenbeinturm gedacht und gemacht werde. Dem wollte er ein Kino entgegensetzen, das dem Publikum Action bot und Schaulust weckte, (Anti-)Helden, die eher echt als sympathisch waren, aus realistisch eingefangenen Milieus stammten und sich authentisch in ihnen bewegten. Für weitschweifige Dialoge oder gar Erklärungen und erhobene Zeigefinger gab es da keinen Platz, was ihm von der Kritik oft als Mangel als Reflexion angekreidet wurde.

Bewegung, Farbe und Sound

Auch in »Supermarkt«, von heute aus betrachtet sicher Klicks zugänglichstes und überzeugendstes Werk, muss man sich die Identifikation mit den Figuren erarbeiten. Die Herumtreiber und Kleinkriminellen werden nicht freundlicher gezeichnet, als sie es sind. Dafür lassen Buch und Regie sie in ihrem Eigensinn vor sich hin wursteln, wie es zu ihnen passt. Klick beobachtet ihr Treiben und die versuchten Ausbrüche und ständigen Abstürze, ohne sie zu werten. Dass einen die Figuren in ihrem Eigensinn dabei letztlich berühren, ist Klicks genauem Blick, seinem Feingefühl und großem handwerklichen Können geschuldet.

Die Kritik hat »Supermarkt« lange Zeit als Actionfilm gesehen und ihm seine »amerikanische« Machart vorgeworfen. Dabei wurde aber übersehen, dass Action hier nicht in erster Linie Effekthascherei bedeutet. Vielmehr geht es darum, dass sich auf der Leinwand immer etwas tut. Bewegung, Farbe und Sound, nicht aber die Sprache, machen für Klick das Wesen des Films aus. Mit diesen Mitteln die Befindlichkeiten, Hoffnungen und letztlich die gesellschaftliche Realität auszudrücken, ist für ihn Aufgabe des Kinos.

Showdown in den Brachen der Stadt. »Supermarkt« zeigte Hamburg so schmutzig wie kein anderer deutscher Film zuvor

Showdown in den Brachen der Stadt. »Supermarkt« zeigte Hamburg so schmutzig wie kein anderer deutscher Film zuvor

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Filmalerie 451

Das Personal seines Films kommt wie das der Literatur eines Hubert Fichte oder Jörg Fauser von ganz unten. Von da, wo Aufstieg und Zugang in die Behaglichkeit der Mehrheitsgesellschaft von vornherein verbaut sind. Die Boutiquen, Restaurants und Häuser der Schönen und Reichen öffnen sich dem Stricher für einen kurzen Moment. Letztlich weigert er sich aber, den eigenen Willen gleichsam am Eingang in diese Welt abzulegen. Also tritt Willi auf der Stelle und seine unterschwellige Wut wächst.

Schnell verblassende Utopien

Einzig kurze Momente mit Monika am Elbstrand oder ein Blick auf die idyllisch daliegende Alsterlandschaft vor der Gartenpforte des kunstsinnigen Freiers weisen auf mögliche Auswege hin. Doch die darin enthaltenen Utopien verblassen schnell. Für Willi ist seine Umwelt nicht viel mehr als eine Kulisse, vor der er weiter kopflos in Richtung des in seiner entfesselten Bewegtheit großartig gefilmten Finales strebt.

Viele Handlungen des Protagonisten und seines Partners in crime, dem von Walter Kohut grandios gespielten Zuhälterganoven Theo, sind impulsiv und unberechenbar. Statt psychologischer Herleitung ihres Verhaltens beschränkt sich »Supermarkt« allein auf dessen Resultate – eben die Action. Und die fällt zwischen von der Ölkrise geschürten Abstiegsängsten und neuen sozialen Bewegungen inmitten trister städtischer Verkehrs- und Einkaufsbrachen so unbeholfen wie gewalttätig aus.

Willi-Darsteller Wierzejewski verharrt die meiste Zeit über in der fast sprachlosen Verlorenheit seiner ersten und einzigen Filmrolle.

In einer nachträglichen Synchronisation hat Marius Müller-Westernhagen, der mit dem Titelsong »Celebration« einen frühen Erfolg feierte, dem Protagonisten seine Stimme geliehen, was heutzutage für eine eigentümliche Vertrautheit sorgt. Dennoch verharrt Willi-Darsteller Wierzejewski die meiste Zeit über in der fast sprachlosen Verlorenheit seiner ersten und einzigen Filmrolle.

Erst viele Jahre später ist er für sie in die Reihe rebellierender Outlaw-Helden à la James Dean eingereiht worden, in die er gehört. Dazu gelingt es dem Film, die Raubtiermentalität der Willi umgebenden Kleinbürger mit ihrem Sound in zugespitzten Kommentaren von Passantinnen und Ordnungshütern aller Art präzise einzufangen.

Inzwischen besitzt das Werk Roland Klicks und vor allem »Supermarkt« Kultstatus. Mit der Wiederaufführung des Films im überarbeiteten 4K-Look ist nun ein Meilenstein des deutschen Films zum 50. Jubiläum sehr zu Recht wieder da zu sehen, wo er hingehört: auf der großen Leinwand.

Supermarkt (BRD 1974). Buch und Regie: Roland Klick. Mit Charly Wierzejewski, Eva Mattes, Michael Degen. Kinostart: Ab 3. Oktober