Ausgefallener als die Wirklichkeit
Seine filmischen Anfänge liegen im Madrid unmittelbar nach dem Ende der faschistischen Franco-Diktatur. Zu dieser Zeit erkundeten spanische Untergrundkünstler die zuvor verpönten und unterdrückten Sphären des Extravaganten, des Hedonistischen und des Schrillen. Einer von ihnen war Pedro Almodóvar – und das Extravagante, Hedonistische und Schrille wird ihn sein ganzes Werk hindurch begleiten.
Schon aus der oft grellen, bunten Farbgebung seiner Filmkulissen (beispielsweise das Set der Wohnung seiner Hauptfigur Pepa in »Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs« von 1988) springt den Zuschauer Almodóvars Liebe zum Ausgefallenen an. In seinen filmischen Oberflächen hat er eine Welt erschaffen, in der alles etwas schöner, wilder und ausgefallener ist als in der Wirklichkeit, und doch scheinen die Filmbilder dieser mühelos entsprungen.
Almodóvar gelingt eine Ästhetisierung des Alltäglichen, zum Beispiel wenn die extravagant eingerichtete Wohnung Salvador Mallos, seines von Antonio Banderas gespielten Alter Egos im autobiographisch geprägten Drama »Leid und Herrlichkeit« (2019), zugleich wie eine grell ausgeleuchtete Theaterbühne und wie der intime Rückzugsort eines depressiven, süchtigen Regisseurs am Ende seiner Schaffenskraft inszeniert wird.
Almodóvar gelingt eine Ästhetisierung des Alltäglichen, zum Beispiel wenn die extravagant eingerichtete Wohnung Salvador Mallos, seines von Antonio Banderas gespielten Alter Egos im autobiographisch geprägten Drama »Leid und Herrlichkeit« (2019), zugleich wie eine grell ausgeleuchtete Theaterbühne und wie der intime Rückzugsort eines depressiven, süchtigen Regisseurs am Ende seiner Schaffenskraft inszeniert wird. Über die bunte, bisweilen allzu verspielt organische spanische Form- und Farbgebung kann man streiten – doch Almodóvar hat mit diesen Mitteln wie kein anderer eine ästhetisch kohärente filmische Welt geschaffen.
Ähnlich wie diese ästhetische Herangehensweise, die am Spiel von Perfektion und scheinbar Zufälligem, Wildem und Abwegigem interessiert ist, in dem Telefone blutrot, Sofas giftgrün und Wände mit irren Mustern tapeziert sind, gestaltet sich auch das erzählerische Vorgehen des Regisseurs. Er tastet sich an das Leben seiner Protagonisten mit all seinen Abgründen, Krisen und ekstatischen Höhepunkten heran und findet gerade in dieser wilden Zerrissenheit zu einer geradezu klassischen Schönheit.
Schonungslos, unzensiert und grob aber auch stilisiert, geformt und zart
Das schlägt sich auch in der Entwicklung von seinem provokanten, ungezähmten Frühwerk zu einer klassischeren Dramaturgie in seinen späteren Filmen nieder. Almodóvars Geschichten sind ebenso schonungslos, unzensiert und grob wie stilisiert, geformt und zart. Auch für diesen aufgehobenen Widerspruch findet Almodóvar in »Leid und Herrlichkeit« ein treffendes Bild, wenn ein Verflossener Mallos bei einem zufälligen Theaterbesuch plötzlich seine eigene Geschichte auf der Bühne vorgespielt bekommt.
Die Auseinandersetzung mit der Homosexualität führt der schwule Regisseur stets erzählerisch, nie politisch. Funktionäre der spanischen Schwulenbewegung haben ihm vorgeworfen, sie nie offen unterstützt zu haben, doch das Interesse Almodóvars gilt schlicht nicht dem Engagement, sondern den Konflikten seiner Protagonisten. In diesem Sinne grenzte er sich in seinem Frühwerk auch deutlich zum Mainstream des spanischen Films der Post-Franco-Ära ab, der sich einer – wiewohl bisweilen selbstbezüglichen und lückenhaften – Beschäftigung mit der faschistischen Diktatur verschrieb. Almodóvar hingegen tobte sich in der neugewonnenen Freiheit aus, widmete sich der Erzählung der gelebten Gegenwart und fand erst später zu historischen Themen, zum Beispiel 1997 mit »Live Flesh«, der als Hommage an den Künstler und Regisseur Luis Buñuel auch erstmals einen Hinweis darauf gab, wo sich Almodóvar in der spanischen Filmgeschichte sieht.
Wie die von seiner langjährigen Muse Penélope Cruz gespielte schwangere Prostituierte Isabel, die Mutter des Protagonisten dieses Films, sind viele der Figuren Almodóvars Randständige und Ausgestoßene. Seine Filme begleiten Homosexuelle und Transsexuelle, die oft mit Drogen und dem falschen Umgang zu kämpfen haben, bei ihrem verzweifelten Ringen um ein bisschen Glück, dem oft nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die eigene Zerrissenheit im Wege steht – eine ungeschönte, offene Auseinandersetzung mit den Schattenseiten, die sexuelle Devianz in Almodóvars Anfangszeiten mit sich brachte und bisweilen noch immer mit sich bringt, die an den Widersprüchen des Lebens und nicht an den Gewissheiten einer politischen Weltanschauung interessiert ist.
Almodóvar und die Frauen
Und dann sind da immer wieder Frauen. Frauen, die leiden, Mütter, die mit dem Leben kämpfen. Der Regisseur äußerte einmal, sein Ideal einer Geschichte sei »eine Frau, die sich in einer Krise befindet«. Über die Frauen in den Hollywood-Filmen des späten zwanzigsten Jahrhunderts bemerkte er, ihre Funktion bestehe lediglich darin, zu zeigen, dass die männlichen Protagonisten nicht homosexuell seien.
Für ihn hingegen seien Frauen als dramatische Figuren interessanter als Männer – er betrachtet sie mit hingebungsvoller Liebe, aber neigt auch hier nicht zur Romantisierung. Die Liebe und die Grobheit der Mutter sind eins, scheint die Darstellung Julieta Serranos ausdrücken zu wollen, die in »Leid und Herrlichkeit« die gealterte Mutter Salvador Mallos verkörpert. Und die Sehnsucht und der Liebeskummer, an denen die sehr erfolgreiche Schnulzenromanautorin, gespielt von Marisa Paredes, im Film »Mein blühendes Geheimnis« (1995) zugrunde geht, steht in starkem Kontrast zu ihrer schriftstellerischen Arbeit, die sie kontrolliert und souverän ausführt.
Begehren für Banderas
Mit Banderas, der in der Rolle des Salvador Mallo mit seinem einstigen Entdecker gleichsam verschmilzt, verbindet den Regisseur eine lange und tiefe künstlerische Beziehung. In »Labyrinth der Leidenschaften« hatte der junge Theaterschauspieler 1982 seinen ersten Kinoauftritt – wobei die Kamera zunächst vor allem an seinem Schritt interessiert war. Almodóvar zog aus seinem Begehren für den jungen heterosexuellen Schauspieler eine cineastische Intensität, die seine kontroversen, wilden frühen Filme bekannt machte und Banderas bald zum internationalen Sexsymbol aufsteigen ließ.
In »Das Gesetz der Begierde« (1987) verstricken sich Almodóvars Protagonisten in ihren widersprüchlichen und wechselnden Leidenschaften, die schließlich in Mord und Totschlag ausarten – die Freizügigkeit und libidinöse Spannung, die wohl am Set am Werk gewesen sein muss, vermittelt sich in diesem Film auf geradezu leibliche Art und Weise. In »Fessle mich!« (1989) spielt Banderas einen so sinnlichen wie gestörten Kidnapper, der eine ehemalige Pornodarstellerin entführt, wobei diese sich ihrem Schicksal geradezu lustvoll fügt. So transzendierte der Regisseur immer wieder die klassische, schablonenhafte Dramaturgie und Figurenzeichnung des etablierten Kinos.
Über die Frauen in den Hollywood-Filmen des späten zwanzigsten Jahrhunderts bemerkte Almodóvar einmal, ihre Funktion bestehe lediglich darin, zu zeigen, dass die männlichen Protagonisten nicht homosexuell seien.
Banderas aber folgte schließlich dem Ruf Hollywoods und nahm geradezu wahllos die meisten der ihm angebotenen Rollen an, was Almodóvar zu gekränkten und verletzten Lästereien veranlasste. Erst nach über 18 Jahren getrennter Wege, in denen Almodóvar in Cruz eine neue Schönheit fand, die seine Filme beflügelte, fanden beide für die Dreharbeiten zu »Die Haut, in der ich wohne« (2011) wieder zusammen. Hier spielt Banderas einen besessenen Schönheitschirurgen, unter dessen Messer eine Geschlechtsumwandlung zum perversen Racheakt wird. Die krankhafte Akribie, mit der Almodóvars Protagonist an der perfektionistischen Formung seines menschlichen Versuchsobjekts arbeitet, ist dabei wohl auch als Reflexion des eigenen künstlerischen Getriebenseins des Regisseurs zu verstehen.
In »Leid und Herrlichkeit« schließlich kommt die Versöhnung mit Banderas zu ihrem berührenden Höhepunkt, im Spiel aus Darstellung und Direktion scheinen Muse und Meister ineinander sich selbst zu erkennen, was Almodóvar einen zarten Blick auf das eigene Leiden, die eigenen Verluste und Abgründe erlaubt. Wie durch eine säkulare Magie des Alltags begegnen dem gealterten Regisseur hier Objekte, Menschen und Erinnerungen aus seiner Vergangenheit – eine Zeichnung aus Kindertagen, die an die Morgendämmerung seines Begehrens erinnert, eine große Liebe, die der Drogensucht zum Opfer fiel, und immer wieder die geliebte Mutter, deren Verlust Almodóvars Alter Ego Mallo nicht verkraften kann. Mit einer geradezu Proust’schen Reflexion über das Wesen der Erinnerung haben Almodóvar und Banderas, der für seine Verkörperung des Regisseurs für den Oscar nominiert wurde, einander ein Denkmal gesetzt.
Die DVD- und Blu-ray-Box »Best of Pedro Almodóvar« mit zehn Filmen ist kürzlich bei Arthaus/Studiocanal erschienen, die Filme können auch bei Arthaus+ gestreamt werden.