Einstürzende Altbauten
Es ist Markttag in Belle de Mai, einem etwas heruntergekommenen Viertel nördlich des Hauptbahnhofs in Marseille. Frauen mit riesigen Tragetaschen erledigen ihren Wochenendeinkauf. Pittoresk ist der Markt nicht, aber er erfüllt seinen Zweck für die Anwohner. Hier gibt es Kleidung, allerlei Ramsch und Lebensmittel für wenig Geld. Und wer Probleme mit seinem Vermieter oder Schimmel an den Wänden hat, eine Wohnung oder eine Arbeit sucht, kann sich an diesem Freitagmorgen direkt hinter dem Marktplatz beraten lassen.
Diverse lokale Vereine haben ihre Stände vor einem Schulgebäude aufgestellt. Das im nahegelegenen Sozialzentrum Friche la Belle de Mai, im Gebäude einer ehemaligen Tabakfabrik, untergebrachte linke Lokalradio Galère überträgt hier live eine Diskussionsveranstaltung.
Wenige Meter daneben steht der Stadtplaner Patrick Lacoste ins Gespräch vertieft mit einer Gruppe Gleichgesinnter. Er hat im Jahr 2000 gemeinsam mit Urbanisten und Aktivisten den Zusammenschluss Un centre-ville pour tous (Ein Stadtzentrum für alle) gegründet.
Bis zu 13.000 Wohnungen sind in Marseille dem regulären Mietmarkt entzogen, weil sie über Airbnb an Touristen vermietet werden.
»Das ist eine Geschichte von Kämpfen«, beschreibt Lacoste der Jungle World seine langjährigen Bemühungen, das Recht auf bezahlbaren Wohnraum durchzusetzen. Anfang der nuller Jahre hätten öffentlichkeitswirksame Protestformen zusammen mit gewonnenen Gerichtsprozessen durchaus zu Erfolgen geführt. »Die Stadtverwaltung wurde so gezwungen, das Gesetz zu respektieren«, sagt Lacoste. Sie ist verpflichtet, im Falle einer Zwangsräumung den Mietern eine Alternative anzubieten. Oft sind das allerdings nur kurzfristige Notunterkünfte.
Von Zwangsräumung betroffen sind vor allem Wohnungen im alten Baubestand der Innenstadtbezirke, zum Beispiel in der Rue de la République mit ihrer beeindruckenden imperialen Architektur aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dort kauften vor knapp 20 Jahren Investmentgesellschaften einige Gebäude und sanierten sie. Die alten Ladenbetreiber und Mieter sollten vor die Tür gesetzt werden.
Zwar gelang es Mitte der nuller Jahre, die Anwohner für Proteste zu mobilisieren, und die Stadt stellte in dem Viertel letztlich 500 Sozialwohnungen zur Verfügung. Aber die alte Sozialstruktur ist inzwischen zerstört. Das sei eben die »Sackgasse des Kapitalismus«, meint Lacoste. Die Aufwertung der zentral gelegenen einstigen Prachtstraße gelang jedoch nicht so recht. Viele Häuser standen lange leer, eines ist derzeit besetzt und wird von Flüchtlingen bewohnt. Erst seit wenigen Jahren siedeln sich wieder mehr Geschäfte an.
In Marseille sind bis zu 13.000 Wohnungen dem regulären Mietmarkt entzogen, weil sie über Airbnb an Touristen vermietet werden. Für Lacoste ist weiterhin der Kampf für die Sanierung alter, heruntergekommener Wohnungen ein zentrales Anliegen.
2018 stürzten drei Häuser ein, acht Menschen starben
Rund 40.000 Wohnungen in Marseille sind baufällig – zu diesem Ergebnis kam 2015 eine Untersuchung des Wohnungsbauministeriums. Das sind etwa zehn Prozent aller Wohnungen der Stadt. Die Behörden gingen jahrzehntelang äußerst nachlässig mit dem Problem um. Zwar gab es öffentliche Renovierungsprogramme, aber praktisch kaum Kontrollen über die Mittelverwendung.
Oft kümmerten sich Privatbesitzer schlichtweg nicht mehr um ihre Immobilien, weil sie sich von einer Sanierung in einem heruntergekommenen Viertel keine Wertsteigerung erhofften. Die bittere Konsequenz zeigte sich am Morgen des 5. November 2018, als drei Häuser in der zentral gelegenen Rue d’Aubagne einstürzten. Acht Menschen starben.
Die Sanierung der baufälligen Häuser in der Stadt gehe nur sehr langsam voran, sagt Ben Kerste der Jungle World. Der aus München stammende Ethnologe und Soziologe ist vor zwölf Jahren nach Marseille gekommen und war seitdem in zahlreichen stadtpolitischen Kämpfen aktiv. Im Rahmen des von der Europäischen Union geförderten Projekts »Fairville« zieht er derzeit in Marseille von Haus zu Haus, um die soziale Lage und die Wohnungssituation der Bewohner festzustellen.
Kriminelle Scheinvermieter
Er befasst sich derzeit mit Belle de Mai, dem ärmlichen Viertel hinter dem Hauptbahnhof, in dem besonders viel illegal vermietet wird. Kerste spricht von regelrechten Ausbeutungsverhältnissen. Oft gebe es »Leute, die meinen, sie hätten einen Mietvertrag, denn sie zahlen jeden Monat ihre Miete«, so der Soziologe, doch in Wirklichkeit gebe es kein offizielles Mietverhältnis.
»Vielleicht haben sie sogar einen Vertrag unterschrieben, der aber gefälscht ist.« Im Extremfall wüssten sie nicht einmal, »dass das Gebäude, in dem sie wohnen, von kriminellen Banden besetzt gehalten wird, die es weitervermieten«. In besonders krassen Fällen hätten bis zu 200 Menschen in heruntergekommenen Wohnhäusern gewohnt und Wuchermieten an solche kriminellen Scheinvermieter gezahlt, denen das Haus nicht gehörte.