17.10.2024
Deborah Hartmann, Leiterin der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz, im Gespräch über das Gedenken an den 7. Oktober

»Anscheinend ist vielen nicht klar, was der Holocaust gewesen ist«

Deborah Hartmann leitet seit rund vier Jahren die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz in Berlin. Zusammen mit anderen Gedenkstätten und Stiftungen hat sie eine Gedenkveranstaltung zum 7. Oktober organisiert. Mit der »Jungle World« sprach sie über die Bedeutung dieses Datums für die Erinnerung an die Shoah, die Interventionen ihrer Gedenkstätte und die Angriffe seitens ihrer Gegner.

Ihre Gedenkstätte hat Anfang Oktober im Berliner Theater Strahl eine szenische Lesung organisiert, in der Stimmen von Überlebenden des Massakers vom 7. Oktober »Gehör verschafft« werden sollte, wie es im Ankündigungstext hieß. Was war Ihre Idee dahinter?
Der Historiker und Schriftsteller Doron Rabinovici, der sich viel mit Zeugenschaft von Shoah-Überlebenden befasst hat, hat für die Lesung Berichte von Überlebenden des 7. Oktober gesammelt und zusammengestellt. Inszeniert wurde sie vom Institut für Neue Soziale Plastik, einem Zusammenschluss jüdischer und antisemitismuskritischer Künstler:in­nen. Im Anschluss gab es eine Diskussion über die Frage, wie der 7. Oktober die Erinnerung an den Holocaust verändert und warum das Massaker bei vielen Jüdinnen und Juden eine Retraumatisierung in Bezug auf die Shoah ausgelöst hat. Das sind Fragen, die auch die Gedenkstätten betreffen. Mir war diese Veranstaltung wichtig, weil es keinen Konsens darüber gibt, was am 7. Oktober passiert ist. Wir sehen, dass sich bereits kurz nach dem 7. Oktober Bestrebungen ­zeigten, die genozidale Gewalt der Hamas zu verharmlosen, mitunter gar zu leugnen oder zu legitimieren. Da­gegen hat die Lesung einen Raum für die Stimmen der Betroffenen geschaffen.

Welche Herausforderungen sehen Sie für die Gedenkstätten nach dem Massaker der Hamas?
Ich sehe die größte Herausforderung darin, wie wir mit dem Genozidvergleich beziehungsweise der Genozidgleichsetzung umgehen sollen, wie sie in den Parolen »Free Palestine from German guilt« oder »Ger­many moves from guilt to guilt« auftaucht. Das ist nämlich das, was wir beobachten und an Reaktionen immer wieder erhalten.

»Wir müssen deutlich machen, dass es unterschiedliche Dimensionen und Qualitäten von Gewalt und Gewaltverbrechen gibt und dass diese Unterschiedlichkeit das individuelle Leid nicht kleiner macht.«

Uns wird auch eine Ungleichbewertung vorgeworfen, zum Beispiel indem uns unterstellt wird, 40.000 Palästinenser:in­nen seien uns nicht so viel wert wie 1.200 Israelis oder Jüdinnen und Juden. Mich persönlich überzeugt der Genozidvorwurf nicht, weder analytisch noch politisch, und ich stimme daher auch mit Historiker:innen, die diesen Vorwurf vertreten, nicht überein. Aber ich habe das Gefühl, dass das durchaus Verbreitung ­findet. Anscheinend ist vielen nicht klar, was der Holocaust gewesen, was ein Völkermord ist, sonst würde man nicht so schnell diese Übertragung machen.

Wie würden Sie den Vorwurf, Israel verübe in Gaza einen Genozid, im Rahmen der Erinnerungsarbeit entkräften?
Wir müssen deutlich machen, dass es unterschiedliche Dimensionen und Qualitäten von Gewalt und Gewaltverbrechen gibt und dass diese Unterschiedlichkeit das individuelle Leid nicht kleiner macht. Die Vorstellung, dass Gewalt in einem Vergleich an der Anzahl an Menschen, die sterben, aufgerechnet werden kann, ist banal und unterkomplex.

Sehen Sie eine weitere Herausforderung?
Eine weitere Herausforderung, die uns als Gedenkstätten betrifft, sehe ich bei der Frage, in welchem Verhältnis der 7. Oktober zum Holocaust steht. Wir können als Gedenkstätten dazu beitragen, besser zu vermitteln, warum es aus jüdischer oder israelischer Perspektive nachvollziehbar ist, dass sich Bezüge zum Holocaust aufdrängen. Gleichzeitig können wir historische Analogien in diesem Bereich aber auch hinterfragen und verdeutlichen, wo sie problematisch sind. Schließlich können sich Gedenkstätten aber auch mit ihrer Expertise zur kritischen Auseinandersetzung mit Gewaltgeschichte einbringen und dabei helfen, die Gewalterfahrungen des 7. Oktober historisch vergleichend einzuordnen.

»Die Konfrontation spielt sich hauptsächlich im Gästebuch ab.«

Hat Ihre Gedenkstätte nach dem 7. Oktober antisemitische Angriffe verzeichnet?
Ich weiß nicht, warum, aber bei uns hat es bisher keine Ausmaße erreicht wie in anderen Gedenkstätten. Die Konfrontation spielt sich hauptsächlich im Gästebuch ab. Dort schreiben jüdische oder israelische Besuch­er:innen solidarische Losungen wie »Am Israel chai« (Das Volk Israel soll leben) oder Forderungen wie »Bring them home now« hinein, auf die andere Gäste wiederum mit Sprüchen wie »Free Palestine« antworten. Auch Einträge wie »Völkermord in Gaza« oder »Netanyahu macht ja leider gerade das Gleiche mit den Palästinensern wie damals Hitler mit den Juden« verzeichnen wir vermehrt seit dem 7. Oktober. Es wurden außerdem mehrere Plakate beschädigt, die die Aktionswochen gegen Antisemitismus bewarben. Letztens wurde auch ein Kugelschreiber der AfD mit dem darauf gedruckten Spruch »Wir schreiben Geschichte« an einer unübersehbaren Stelle liegen gelassen.

Wie gehen Sie mit Besuchern um, die der AfD angehören oder ihr nahestehen?
Seitens der AfD gibt es einen großen Andrang, Gedenkstätten zu besuchen. Das ist natürlich eine Form der Instrumentalisierung, die diese Partei dafür nutzt, um sich als nicht geschichtsrevisionistisch zu inszenieren. Häufig organisieren Bundestagsabgeordnete Besuche für Menschen aus ihrem Wahlkreis, was über das Bundespresseamt finanziert wird. Wenn sich solche Gruppen ankündigen, haben wir bisher versucht, das differenziert anzugehen und sie nicht kategorisch abzulehnen – in der ­ganzen Ambivalenz, die da drinsteckt. Wir bereiten diese Führungen dann so auf, dass sie sehr klar in ihrer politischen Aussage sind. Wir haben einen gesellschaftlichen Auftrag, und vielleicht gibt es ja Menschen darunter, bei denen man ein Umdenken erzeugen kann, weil es sich nicht bei allen um gefestigte AfD-Mitglieder handelt. Problematische ­Äußerungen fallen aber auch in den Besuch­er:innengruppen anderer Parteien.

Teile der sich als ideologiekritisch verstehenden Linken reden das antisemitische Potential der AfD klein und sehen stattdessen die Hauptgefahr für Jüdinnen und Juden im postkolonial begründeten Antizionismus. Wie denken Sie darüber?
Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich so ist oder nicht oft eher als Vorwurf gebraucht wird. Ich kenne niemanden, der den virulenten israelbezogenen Antisemitismus in sich als postkolonial verstehenden Gruppen kritisiert und den Antisemitismus der AfD bestreiten würde. Aber ich sehe, dass in der gesamtgesellschaftlichen Debatte, zum Beispiel im Hinblick auf die Documenta und andere Ereignisse, durchaus verschiedene Formen von Antisemitismus gegeneinander ausgespielt werden. Ich verstehe nicht, wie wir an diesen Punkt gekommen sind. Denn darin steckt eine große Gefahr, dass man so den Antisemitismus, der sich ja gerade dadurch auszeichnet, dass er in verschiedenen Milieus adaptiert werden kann, letztlich relativiert. Damit tut man sich am Ende keinen Gefallen. Es dient letztlich der Entlastung einer Gesellschaft, in der Antisemitismus bei allen gesellschaftlichen Gruppen und politischen ­Strömungen ein Problem ist, das leider viel zu häufig verharmlost wird.

Die Lesung war nicht die erste Intervention Ihrer Gedenkstätte. Bereits Anfang Juni hatten Sie gemeinsam mit anderen Leiterinnen und Leitern von Berliner NS-Erinnerungsorten eine Pressemitteilung veröffentlicht. Anlässlich der sogenannten propalästinensischen Universitäts­be­setzungen an der Freien Universität und der Humboldt-Universität Berlin kritisierten Sie, dass Lehrende das »aggressive und demokratiefeindliche Verhalten« der Protestierenden unterstützten.
Wir hatten uns bereits nach dem 7. Oktober 2023 zu dem Massaker der Hamas geäußert und auch die Familie von Alex Dancyg eingeladen – ein Kollege aus der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, der entführt wurde und von dem man mittlerweile weiß, dass die Hamas ihn ermordet hat. Wir waren also in gewisser Hinsicht bereits in diese Thematik involviert. Wir fanden dann die Besetzungen und Protestcamps an den Universitäten sowie die Reaktionen darauf seitens einiger Unileitungen und mancher Professor:in­nen sehr problematisch.

»Ich habe ein paar ekelhafte antisemitische Botschaften erhalten, die ich angezeigt habe.«

Und wir haben in dieser Situation klare Bezüge zu unserer Arbeit als Gedenkstätte gesehen, da wir ja auch mit Studierenden zusammenarbeiten. Zusammen mit den Bezügen zum Nationalsozialismus und zur Shoah in den Protestcamps, beispielsweise die verzerrte Wahrnehmung des von der Hamas zur Feindmarkierung verwendeten roten Dreiecks als angeblich antifaschistisches Symbol, was eine ahistorische Verkehrung der in den ­Konzentrationslagern verwendeten Zwangskategorisierungen ist, oder der Behauptung, in Gaza fände ein Genozid statt, hatten wir das Gefühl, dass wir uns dazu äußern müssen.

Gab es Reaktionen auf Ihre Mitteilung?
Es gab viele positive Reaktionen, zum Beispiel von Kolleg:innen aus den Universitäten, die gesagt haben: »Gut, dass es diese Erklärung gibt, weil wir da eine Stimme vermisst haben.« Natürlich bekommt man auf so eine Meldung auch unangenehme Nachrichten. Ich zum Beispiel habe ein paar ekelhafte antisemitische Botschaften erhalten, die ich angezeigt habe.

In einer vielbeachteten Recherche des Netzwerks Correctiv von Anfang Januar wurde Ihre Gedenkstätte namentlich erwähnt. Die Autoren spekulierten darin, ob der Ort des konspirativen Treffens, bei dem Funktionäre der AfD, Nazis und Mitglieder der CDU massenhafte Abschiebungen diskutierten, in bewusster Analogie zur Wannseekonferenz gewählt worden sei. Was hielten Sie davon?
Ich verstehe durchaus, woher diese Bezugnahme kommt und warum ­einige angesichts dieses Treffens von einer »Wannseekonferenz 2.0« oder Ähnlichem sprechen. Durch die geographische oder zeitliche Nähe der Enthüllung zum Jahrestag drängt sich so ein Bezug auf. Aber natür­lich muss man sich auch der Differenzen bewusst sein, die es genauso gibt. So furchtbar das Treffen in diesem nahegelegenen Potsdamer Hotel auch war, es fand in einer völlig anderen gesellschaftlichen Situation statt.
Und die daran beteiligen Akteure sind glücklicherweise immer noch viel marginalisierter als die Vertreter von Ministerien und Orga­nisationen, die 1942 über die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden sprachen. Die Teilneh­mer:innen an dem Potsdamer Treffen redeten über »Remigration«, und das ist natürlich ein ähnlich krasser ­Euphemismus für Abschiebung und Deportation wie »Endlösung« für ­einen Massenmord, aber man muss sich bewusst sein, dass bei der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 über einen bereits stattfindenden Massenmord mit ganz anderen Konsequenzen als denen gesprochen ­wurde, die auf dem Treffen in Potsdam Thema waren.

Deborah Hartmann

Deborah Hartmann, Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz in Berlin

Bild:
GHWK