»Verkörperte Fremdheit«
»Wir leben zweimal«, schrieb der 1925 im polnischen Posen geborene Zygmunt Bauman in seiner kürzlich posthum erschienenen Autobiographie »Fragmente meines Lebens«. »Einmal brechen und glätten wir; beim zweiten Mal sammeln wir die Teile auf und arrangieren sie zu Mustern. Im ersten leben wir, im zweiten erzählen wir die Erfahrung.«
Man muss kein ausgewiesener Kenner der Schriften des 2017 in Leeds verstorbenen Soziologen sein (der sich jahrzehntelang mit der Moderne und Postmoderne beschäftigte), um an der Formulierung der erzählten Erfahrung hängenzubleiben: vielleicht, um die Widersprüche besser nachvollziehen zu können, in die sich Bauman in seinem Leben zwischen Wissenschaft und public intellectual immer wieder begeben hat. »Dieses zweite Leben scheint wichtiger als das erste – warum auch immer«, heißt es weiter in »Fragmente meines Lebens«. »Erst im zweiten taucht der tiefere Sinn an der Oberfläche auf.«
Baumans Autobiographie ist tatsächlich Fragment und war nie als in sich geschlossene Erzählung geplant, sie enthält zahlreiche Leerstellen und Lücken.
»Fragmente meines Lebens« war ursprünglich gar nicht als Autobiographie angelegt gewesen, vielmehr hat die Herausgeberin Izabela Wagner, die 2020 auch eine Biographie Baumans veröffentlichte, einige autobiographische Texte aus einem Zeitraum von 30 Jahren zusammengestellt. Ein Teil dieser Texte war nie zur Veröffentlichung, sondern als Tagebuch beziehungsweise Dokumentation der eigenen Jugend für die Familie gedacht. Ein anderer Teil wurde in Reaktion auf öffentliche Debatten verfasst, etwa auf die Enthüllung von Baumans Tätigkeit als Agent des Militärischen Informationsdienstes in Polen in den ersten Nachkriegsjahren, der für die Bekämpfung von antikommunistischem Widerstand zuständig war.
Aufgrund dieses Charakters des Buchs, das tatsächlich Fragment ist und nie als in sich geschlossene Erzählung geplant war, enthält es zahlreiche Leerstellen und Lücken, während anderes, scheinbar Nebensächliches, umso stärker in den Mittelpunkt rückt. Das Leben des Soziologen will sich daraus nicht kohärent zusammensetzen, aber vielleicht entspricht genau dies seinem Denken, das sich nicht in einem der »seidengefütterten akademischen Nester der patentierten Weisheit« niederlassen wollte, wie er schreibt.
Janina Bauman hatte einen gänzlich anderen Blick auf Israel
Gleichzeitig hatte sich Bauman, vor allem in seiner Ablehnung des israelischen Nationalstaates, immer wieder als Inhaber einer »patentierten Weisheit« inszeniert, etwa als er 2011 in einem Interview mit der polnischen Zeitschrift Polityka über den israelischen Grenzwall sagte: »Was ist diese Mauer, die um die besetzten Gebiete gebaut wird, anderes als der Versuch, die Auftraggeber der Mauer um das Warschauer Getto zu übertreffen?«
Seine 2009 verstorbene Frau Janina Bauman, die als Jugendliche das Warschauer Ghetto überlebt hat und darüber das Buch »Als Mädchen im Warschauer Ghetto« verfasste, hatte einen gänzlich anderen Blick auf Israel, in einem Interview erzählte sie 1994: »Bevor ich mein Studium begann und Zygmunt traf, war ich Zionistin. Ich wurde nicht als Jüdin erzogen. Niemand in meiner Familie war religiös, niemand war zionistisch. Es waren die Nazis, die mich im Ghetto zur Jüdin machten. Ich wollte nach Israel gehen und in der Wüste arbeiten. Ich war schon abfahrbereit, und es war nur ein Zufall, dass ich nicht sofort ging.«
Obwohl Zygmunt wohl alles dafür getan hat, Janina Bauman vom Zionismus abzubringen, emigrierten die beiden mit ihren Kindern 1968 getrieben von der damals grassierenden antisemitischen Stimmung in Polen – Bauman erzählt von anonymen Drohungen wie »Wir kommen bald, du lumpiger Jude, um uns um dich zu kümmern« – doch nach Israel, wo er Soziologie an der Universität Tel Aviv lehrte, bis er 1971 einen Ruf an die Universität Leeds erhielt.
»Loyaler Untertan der britischen Krone«
Wer sich erhofft hatte, in der Autobiographie etwas über diesen Widerspruch zu erfahren, wird enttäuscht: Die drei Jahre in Israel bei der Familie seiner Frau – und auch Baumans Vater verbrachte seine letzten Lebensjahre in einem israelischen Kibbuz –, werden mit keinem Wort erwähnt, lediglich seine Abneigung gegen den jüdischen Staat wird noch einmal wiederholt: »Ich fühle mich für mein Polentum genauso verantwortlich, wie ich Verantwortung übernehme für meinen einstigen Kommunismus und meinen lebenslangen Sozialismus, die Ablehnung Israels und die Entscheidung, mein Leben als vertriebener, exterritorialer und loyaler Untertan der britischen Krone zu beenden.«
Wichtiger sei das zweite Leben, das geschriebene, hatte Bauman ja formuliert, weil hier der tiefere Sinn zutage trete. Womöglich liegt dieser tiefere Sinn gerade in den Widersprüchen und den Leerstellen? Wahrscheinlicher aber bleiben einige Widersprüche einfach Widersprüche und unreflektierte, einfältige und ressentimentgeladene Aussagen bleiben ganz einfach unreflektierte, einfältige und ressentimentgeladene Aussagen, egal in wie viele Kontexte man sie zu betten versucht.
Wer bereit ist, sich dennoch auf die »Fragmente eines Lebens« einzulassen, wird in der ersten Hälfte des Buchs mit einer so liebevollen wie selbstironischen Geschichte einer jüdischen Familie im Polen der zwanziger und dreißiger Jahre belohnt. In seinem Buch »Moderne und Ambivalenz« von 1991 hatte Bauman Vertreter des Diaspora-Judentums vor der Shoah wie seine Eltern als »universale Fremde« beschrieben, da es kein Land gab, das sie als ihres hätten beanspruchen können. »Die Juden waren die ›verkörperte Fremdheit‹, die ewigen Wanderer, der Inbegriff der Nicht-Territorialität, das Wesen der Heimatlosigkeit und Wurzellosigkeit«, schreibt er dort.
»Die örtlichen Antisemiten waren schockiert«
Der vermeintlich heimatlose Jude stellt nach Bauman eine Bedrohung der sich formierenden Nationalstaaten dar: »Auf dem Kontinent der Nationen und Nationalismen erinnerten nur noch die Juden an die Relativität der Nationalität und der äußeren Grenzen des Nationalismus.« Als solche Bedrohung wurden auch seine Eltern wahrgenommen, die sich zwischen Assimilation und zionistischer Utopie ihr Leben einrichteten.
Baumans Großvater, der seine letzten Lebensjahre bei der Familie seines Sohnes verbrachte, wirkte im urbanen Posen wie ein Gast aus einer anderen Zeit: »Die örtlichen Antisemiten waren so schockiert von dem Anblick des Juden in einem Pekesche« – einem chassidischen Mantel –, »dass sie ihre Aufgabe, ihn zu verhöhnen, ganz vergaßen. In die praktisch judenreine Stadt, eine Festung der gewaltbereiten antisemitischen Partei Nationale Demokratie, die gegen den Dämon der geheimen jüdischen Verschwörung kämpfte, passte ein alter Mann, der sein ungepflegtes, provinzielles Judentum so offen zur Schau stellte, schlicht nicht ins Feindbild.«
Die in Armut lebende Familie Bauman erlebte den immer stärker werdenden Antisemitismus, das Schicksal, »einer von jenen zu sein, die nicht ganz dazugehören«, und daher den Ausgrenzungen etwa in der Schulbildung wie auch den antisemitischen Schlägertrupps ausgeliefert zu sein. »Dem rotznasigen Zygmunt teilte man also mit, dass – wenn er die gleichen Noten erreichen wollte wie die anderen – er deutlich härter würde arbeiten müssen als diese anderen«, erinnert er sich an die Ausweglosigkeit dieser Situation. »Und wenn er genau das täte, würde man ihm dies als Arroganz, Übereifer und Penetranz auslegen.«
Entfremdung von der sowjetischen Realität
Baumans Reaktion darauf war unter anderem der Eintritt in die zionistische Jugendorganisation Hashomer Hatzair, um nicht mehr alleine mit der Erfahrung der Ausgrenzung leben zu müssen: »Aus meiner kurzen, kaum ein halbes Jahr währenden Hashomer-Hatzair-Erfahrung erwuchs in mir die Entschlossenheit, die Welt zu verändern. Und Sozialist zu sein. Und schlank. Tatsächlich verlor ich in diesen schicksalhaften sechs Monaten all meinen kindlichen Speck. Bald darauf verlor ich mein Zuhause – für immer. Und mein Heimatland – zum ersten Mal.«
Während seine ältere Schwester nach Palästina emigrieren konnte, floh er mit seinen Eltern nach dem Überfall von Nazi-Deutschland auf Polen in den sowjetischen Teil des Landes, wo die Familie die Verfolgung überlebte. Dort schloss er die Schule ab, wurde Mitglied der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol und begann ein erstes Studium in Gorki, Physik und Mathematik.
Gegen Ende des Kriegs schloss er sich schließlich einer Armee aus polnischen Exilanten an, die mit der Roten Armee gemeinsam Polen von den Deutschen befreite. Es folgte ein Prozess der Entfremdung von der sowjetischen Realität, noch unmittelbar nach dem Krieg war er vom sowjetischen Weg überzeugt gewesen.
Nachdem sein Physikstudium in Polen nicht anerkannt worden war, begann er ein Studium der Soziologie, was ihn einige Jahre später in einen Konflikt mit den Machthabern brachte: »Schon die bloße Ausübung der Soziologie als einer unabhängigen Erkenntnisquelle über den Zustand der Gesellschaft galt als ›staatsfeindlich‹ und ›antisozialistisch‹, da dies bedeutete, eine Funktion zu erfüllen, für die der Staat das alleinige Monopol beanspruchte.« Wenig später erfolgte die Ausreise nach Israel.
Das Buch endet fast versöhnlich
Diese Kapitel der Autobiographie, die ein jüdisches Polen vor der deutschen Besatzung schildern und aus dem Blickwinkel eines polnischen Juden erzählt werden, der als Befreier und nicht als Verfolgter auftritt, sind sehr lesenswert, eine solche Perspektive ist nicht sehr häufig zu finden. Vieles bleibt jedoch im Dunkeln, das Leben seiner Frau etwa, mit der er über 60 Jahre verheiratet war, auch eine Einführung in sein theoretisches Werk muss man anderswo suchen, von den politischen Kontroversen ganz zu schweigen.
Das Buch endet schließlich fast versöhnlich mit einem Beharren darauf, sich auch irren zu dürfen: »Wenn wir das Risiko des Irrtums eingehen, ein Risiko, ohne das es niemals Freiheit geben wird, öffnen wir ebenfalls die Tore dafür, dass unser Gewissen fortan als Richter fungieren wird – der Richter, der sowohl ermittelt als auch verurteilt, streng und unbestechlich, vor dessen Urteilen wir nicht einfach davonlaufen können, indem wir erklären, jemand anders oder unsere eigene Unwissenheit habe uns dazu gezwungen, zu tun, was wir getan haben, oder uns davon abgehalten, das zu tun, was wir hätten tun sollen.«
Zygmunt Bauman: Fragmente meines Lebens. Herausgegeben von Izabela Wagner. Aus dem Englischen von Ursula Kömen. Suhrkamp/Jüdischer Verlag, Berlin 2024, 302 Seiten, 30 Euro