Das Unbehagen an der gesellschaftlichen Totalität
Auch wenn völkische, faschistische und nationalsozialistische Bewegungen seit mindestens einem Jahrhundert ihr Unwesen treiben, sind die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen regressiver politischer Bewegungen bis heute weitgehend unaufgeklärt geblieben. Die gegenwärtige wissenschaftliche Debatte über die jüngste Offensive der äußersten Rechten bietet hierfür reichlich Anschauungsmaterial. Sie ist nicht nur durch das seit Jahrzehnten im Wissenschaftsbetrieb kultivierte Ressentiment gegen gesellschaftstheoretische Reflexion geprägt. Auch einige derjenigen, die diesem Trend entgegenzuwirken versuchen und weiterhin beanspruchen, das Einflusspotential der politischen Regression gesellschaftstheoretisch zu entschlüsseln, tendieren zur Trivialisierung.
Dies zeigt sich daran, dass Grundprobleme kritischer Gesellschaftstheorie – etwa die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt – wenn überhaupt nur oberflächlich abgehandelt werden. Stattdessen werden Erklärungsmuster bevorzugt, die das Problem und seine Entstehungsbedingungen unmittelbar greif- und lösbar erscheinen lassen. Dass dabei die Auseinandersetzung mit Widersprüchen, die in der Sache selbst begründet sind, vermieden wird, zeigt sich insbesondere daran, dass die Debatte zu zwei Polen tendiert.
Rationalisierung des Klasseninteresses
Auf der einen Seite gibt es die Annahme, dass Menschen sich mit regressiven politischen Bewegungen vor allem deshalb identifizieren, weil dies in ihrem eigenen Interesse sei. Diese Position findet sich beispielsweise in den jüngeren Arbeiten von Didier Eribon, der mit seinem Buch »Rückkehr nach Reims« eine umfangreiche Debatte im deutschsprachigen Raum auslöste. Eribon betreibt eine Art kritischer Selbstreflexion über den Schaden, den die langjährige Ausblendung klassentheoretischer Denkweisen in postmodernen intellektuellen Milieus angerichtet hat.
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