Hauchdünn für die EU
Chișinău. Das Resultat des Referendums vom Sonntag in Moldau hätte kaum knapper ausfallen können: 50,38 Prozent der Wahlberechtigten stimmten für eine Verfassungsänderung, 49,62 Prozent dagegen. Damit entschied weniger als ein Prozentpunkt Vorsprung bei den Ja-Stimmen über die künftige verfassungsrechtliche Verankerung eines proeuropäischen Kurses als strategisches Ziel; angestrebt wird ein EU-Beitritt des Landes bis 2030.
Bei der gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahl erhielt die Amtsinhaberin und Gründerin der liberalen Partidul Acțiune și Solidaritate (Partei der Aktion und Solidarität, PAS), Maia Sandu, 42,45 Prozent der Stimmen. An zweiter Stelle lag Alexandr Stoianoglo von der Partidul Socialiștilor din Republica Moldova (Partei der Sozialisten, PSRM) mit 25,98 Prozent. Am 3. November soll es eine Stichwahl zwischen diesen beiden Kandidaten geben, bei der ein knapper Ausgang erwartet wird.
Die Stimmung am Wahlabend war angespannt. Als die ersten Ergebnisse eintrafen, überwogen beim Referendum die Nein-Stimmen. Da die Stimmen der Moldauer:innen, die in Wahllokalen im Ausland wählten, erst zum Schluss gezählt wurden, kippte erst am nächsten Morgen das Verhältnis zugunsten der Ja-Stimmen. Die moldauische Diaspora ist deutlich proeuropäisch. Insgesamt votierten 76,96 Prozent der Wähler:innen im Ausland mit ja und 23,04 mit nein. Die Region mit dem höchsten Anteil an Nein-Stimmen war das traditionell prorussische Territorium Gagausien mit knapp über 94 Prozent Nein-Stimmen.
Dem Wahlsonntag vorangegangen war eine ausgiebige und aggressive russische Desinformationskampagne in Moldau.
Auch moldauische Bürger:innen, die in der abtrünnigen prorussischen Region Transnistrien, einem dünnen Streifen zwischen der Ukraine und dem Rest Moldaus, leben, durften ihre beiden Stimmen am Sonntag abgeben. Da die Region aber nicht unter moldauischer Kontrolle steht und dort russische Truppen stationiert sind, wurden Wahllokale auf moldauisch kontrolliertem Territorium für diese Wählergruppe eingerichtet. In Transnistrien, einem weder von Moldau noch von der internationalen Gemeinschaft und nicht einmal von Russland anerkannten staatsähnlichen Gebildes, stimmten beim Referendum trotz des allseits präsenten russischen Einflusses knapp über 31 Prozent der Wähler:innen mit ja – deutlich mehr als in Gagausien.
Dem Wahlsonntag vorangegangen war eine ausgiebige und aggressive russische Desinformationskampagne. In ihrem Mittelpunkt steht der kremlnahe moldauische Oligarch Ilan Șor. Wegen betrügerischer Machenschaften, die zum Verlust von einer Milliarde US-Dollar aus dem moldauischen Bankensystem geführt hatten, war er zu langjähriger Haft verurteilt worden. Der gebürtige Israeli hat sich ins Ausland abgesetzt und inzwischen nach eigenen Angaben einen russischen Pass erhalten.
Unzufriedenheit der Bevölkerung ausnutzen
Im Interesse der Moskauer Führung nimmt er über Stellvertreter:innen, aber auch persönlich durch Videoauftritte und soziale Medien Einfluss auf die moldauische Politik. Dort ist seine nach ihm benannte Partei inzwischen offiziell verboten. So organisierte er etwa von Herbst 2022 bis Sommer 2023 regelmäßig Kundgebungen gegen den proeuropäischen Kurs der moldauischen Regierung und der Staatspräsidentin Maia Sandu, die Unruhe stiften sollten.
Seine Taktik basierte darauf, gezielt die Unzufriedenheit der Bevölkerung in dem von Armut geprägten Land mit Blick auf den Anstieg von Energie- und Lebensmittelpreisen auszunutzen: Schuld daran sei nicht etwa der russische Angriffskrieg im Nachbarland, sondern die proeuropäische Politik Sandus und der Regierung.
Evghenia Guțul, die Gouverneurin des autonomen Gebiets Gagausien, gilt als Marionette Șors. Wie er steht auch sie selbst inzwischen auf Sanktionslisten der USA und der EU. In Moldau läuft gegen sie ein Strafverfahren. Die Antikorruptionsstaatsanwaltschaft wirft ihr vor, während ihrer Tätigkeit als Sekretärin für die Șor-Partei von 2019 bis 2022 »systematisch und täglich« Geld aus Russland nach Moldau transferiert zu haben, um die Șor-Partei auf illegalem Weg zu finanzieren. Insgesamt geht es um eine Summe von umgerechnet 2,2 Millionen Euro. Auch soll Guțul von Oktober bis November 2022 während der Antiregierungsproteste für Namenslisten verantwortlich gewesen sein, die die Bezahlung von Demonstrant:innen für ihre Teilnahme dokumentieren.
»Noch nie dagewesener Angriff auf die Freiheit und Demokratie«
Șor verwendet neben direkter Bezahlung und Desinformationskampagnen, die Angst vor einem EU-Beitritt schüren sollen, auch günstige Sozialsupermärkte, Umsonst-Feste und sogar kostenlose Freizeitparks, um Wähler:innen für sich zu gewinnen. Er kündigte in der Fernsehsendung des russischen Propagandisten Wladimir Solowjow an, Proteste gegen das Ergebnis des Referendums zu organisieren, das er nicht anerkenne.
Als Sandu in den frühen Morgenstunden des 21. Oktober vor die Presse trat, warf sie kriminellen Gruppen in Kooperation mit ausländischen Kräften – es ist klar, dass nur Russland gemeint sein kann – vor, 300.000 Stimmen gekauft zu haben. Das ist eine erhebliche Zahl bei einem Land mit 2,4 Millionen Einwohner:innen. »Die Republik Moldau ist heute und in den letzten Monaten mit einem noch nie dagewesenen Angriff auf die Freiheit und Demokratie unseres Landes konfrontiert«, sagte sie.
Russland nimmt die ehemalige Sowjetrepublik Moldau, wo nach wie vor Rumänisch und Russisch gesprochen werden, als seinen natürlichen Einflussbereich wahr.
Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow stritt die Vorwürfe ab und verlangte konkrete Beweise. Auch sagte er, die Wahlen seien nicht frei gewesen, die Opposition in Moldau habe keine Möglichkeit gehabt, sich in den Wahlkampf einzubringen. Es ist die übliche russische Rhetorik, die kriminell agierende prorussische Kräfte und ihre Desinformationskampagnen als harmlose Opposition darzustellen versucht. Russland nimmt die ehemalige Sowjetrepublik Moldau, wo nach wie vor Rumänisch und Russisch gesprochen werden, als seinen natürlichen Einflussbereich wahr.
Am 3. November steht die Stichwahl zwischen Sandu und Stoianoglo an. Präsidentin Sandu ist die einzige unter den elf Kandidat:innen im ersten Wahlgang, die ein klar proeuropäisches und progressives Programm verfolgt. Das dürfte zur Folge haben, dass Stoianoglo die Wähler:innen der nun ausgeschiedenen Kandidat:innen hinter sich versammeln kann. Die Chancen stehen gut, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen wird, und es ist wahrscheinlich, dass Russland alles dafür tun wird, um Sandus Sieg zu erschweren.
Und danach wartet schon die nächste Herausforderung, im kommenden Sommer sollen Parlamentswahlen stattfinden.