24.10.2024
Kamala Harris versucht, kontroverse Themen zu umgehen

Es wird knapp

In Umfragen liegt Kamala Harris nur leicht vor Donald Trump. Um eine erneute Präsidentschaft des republikanischen Despoten zu ­verhindern, müsste sie eine große Anzahl unentschlossener Wähler:innen überzeugen, die teilweise nicht mehr für rationale Argumente zugänglich sind.

Alles wäre weit weniger besorgnis­erregend, wenn die US-Amerikaner:in­nen sich irgendwann dazu bequemt hätten, ihr überkommenes Präsidentschaftswahlsystem zu reformieren. Geht es um die popular vote, den landesweiten Stimmenanteil, liegt Kamala Harris den von The Economist am Freitag voriger Woche ausgewerteten Umfragen zufolge knapp drei Prozentpunkte vor Donald Trump. Manche Umfragen geben Harris nur zwei Prozentpunkte Vorsprung, aber auch das wären etwa 3,2 Millionen Stimmen mehr.

Die Wahl am 5. November entscheiden jedoch einige Zehntausend Wähler:in­nen, vielleicht sogar noch weniger, in den swing states Pennsylvania, Wisconsin, North Carolina, Georgia, Michigan, Arizona und Nevada. In diesen Bundesstaaten siegt mal die Demokratische, mal die Republikanische Partei. Denn auf der Basis der Ergebnisse in den Bundesstaaten werden Wahlmänner und mittlerweile auch -frauen ins Electoral College entsandt, und in 48 der 50 Bundesstaaten (die Ausnahmen sind Nebraska und Maine) gilt die winner-take-all-Regel: Alle Stimmen der Wahlleute gehen an den Sieger, wie knapp sein Vorsprung auch gewesen sein mag. Das prägt auch den Wahlkampf, zumindest den von Harris, die sich auf die swing states konzentriert.

Trump ist kaum geneigt, auf taktische Feinheiten zu achten oder auf professionelle Ratschläge zu hören. Dass er etwa bei einer Wahlkampfveranstaltung in Oaks, Pennsylvania, am Mittwoch voriger Woche eine halbe Stunde lang zu Musik schunkelte, war sicherlich in keinem Skript vorgesehen. Der republikanische Präsidentschaftskandidat appelliert an reaktionäre Ressentiments und verbreitet Verschwörungstheorien – mit erschreckend großem Erfolg. Seine Behauptung, dass haitianische Migranten Haustiere entführten und verspeisten, halten einer Umfrage des britischen Datenanalyseunternehmens Yougov zufolge 18 Prozent der republikanischen Wähler:innen für »bestimmt« und 28 Prozent für »wahrscheinlich wahr«. Aber auch jene knapp 30 Prozent, die sich beim Wahrheitsgehalt dieser Aussage nicht sicher sind, stören sich offenbar nicht daran.

Dass haitianische Migranten Haustiere entführten und verspeisten, halten einer Umfrage von Yougov zufolge 18 Prozent der republikanischen Wähler:innen für »bestimmt« und 28 Prozent für »wahrscheinlich wahr«.

An Trump knüpfen sich religiöse und parareligiöse Erlösungshoffnungen. Man kann an ihn glauben, ohne ihm zu glauben. Rechte Christ:innen sehen in ihm so etwas wie eine Wiedergeburt alttestamentarischer Kriegsherren wie Samson, ein Werkzeug Gottes, dessen persönliche moralische Verfehlungen nachrangig sind. Für weniger religiös geprägte Rechte verkörpert der rücksichtslose und amoralische tough guy das Versprechen, dass die ihnen von einer »woken Elite« zugefügten Demütigungen gerächt werden.

Ein zahlenmäßig schwer exakt schätzbarer, aber sicher erheblicher Teil der Wähler:innen ist mit rationalen Argumenten nicht mehr ansprechbar – dies offen auszusprechen, gilt jedoch als anstößig. So antwortete Harris im rechten Sender Fox News auf die Frage, ob sie Trumps Wähler:innen für »fehlgeleitet« oder »dumm« halte: »Oh Gott, das würde ich nie über das amerikanische Volk sagen.« Es mag wahlkampftaktisch unvermeidlich oder sogar klug sein, das Problem rhetorisch zu umschiffen, gelöst wird es dadurch nicht.

Den Demokrat:innen bleibt gar nichts anderes übrig, als es mit Argumenten zu versuchen. Harris nutzt im Wahlkampf ihre Erfahrung als Staatsanwältin – auf die sie immer wieder hinweist – für die resolute Präsentation von Programmpunkten und Warnungen vor den Folgen eines Sieges Trumps. Sie beherrscht aber auch den freundlichen, sogar fröhlichen Auftritt – eine Kandidatin, mit der man auch mal ein Bier trinken könnte; in der Fernsehsendung »The Late Show« stieß sie mit Moderator Stephen Colbert mit einer Dose Bier der Marke »Miller – High Life« aus Wisconsin an. So präsentiert sie sich als Konterpart zu Trumps Griesgrämigkeit, als Kandidatin, die an den Fortschritt und ein besseres Leben glaubt, als Präsidentin aber auch an einer Aussöhnung der verfeindeten politischen Lager arbeiten wird.

Klarer Gegenentwurf zu Trumps rechtsextremen Zielen

Seit Harris die Kandidatur von Joe Biden übernommen hat, bleibt das Grundprinzip ihres Wahlkampfs kon­stant. Sie vertritt einen klaren Gegenentwurf zu Trumps rechtsextremen Zielen, ist dabei aber bemüht, als heikel erscheinende Themen zu vermeiden und nicht zu links zu erscheinen. In der Flüchtlings- und Migrationspolitik beharrt sie auf Rechtsstaatlichkeit, befürwortet aber eine restriktive Asylpolitik und eine noch stärkere Abschottung der Grenze zu Mexiko. Sie spricht über so­ziale Fragen, vornehmlich aber über solche, die für die Mittelschicht von Bedeutung sind wie erschwingliche Eigenheime. Bei der Erhöhung des Mindestlohns bleibt sie vage, über Gewerkschaftsrechte spricht sie selten, sehr oft hingegen über die Förderung von Kleinunternehmen. »Ich bin eine Kapitalistin«, bekundete sie Ende September in Pittsburgh, Pennsylvania.

Wohl am auffallendsten: Die Klimapolitik spielt in Harris’ Wahlkampf kaum eine Rolle, obwohl die Demokratische Partei hier mit dem Inflation Reduction Act einen auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht erfolgreichen Anfang gemacht hat und zwei schnell aufeinanderfolgende verheerende Hurrikans die Dringlichkeit des Themas hinreichend verdeutlichten. Offenkundig sollen um ihren Wohlstand besorgte Wähler:innen nicht verschreckt werden, während man davon ausgeht, dass jene, die Klimaschutz befürworten, Trump ohnehin nicht wählen werden. Harris will nunmehr auch das Fracking, eine umweltschädliche, aber profitable Methode zur Erschließung von Gas- und Ölvorräten, nicht mehr verbieten, wie es früher ihre Position war, vor allem wohl mit Blick auf den swing state Pennsylvania, in dem die fossile Industrie noch bedeutend ist.

Eine fragwürdige Strategie, urteilt Nitish Pahwa im Online-Magazin Slate, denn Umfragen zeigten, dass die Mehrheit der Wähler:innen in diesem Bundesstaat gegen Fracking sei. Dort befürworten sogar 59 Prozent der Repu­blikaner:innen die Förderung erneuerbarer Energien, eine Branche, in der es mittlerweile weit mehr Arbeitsplätze gibt als in der fossilen Industrie. Klebt die demokratische Wahlkampfstrategie womöglich zu sehr am Klischeebild des veränderungsunwilligen weißen Arbeiters, während etwa auch real existierende Bergleute im Kohleabbau (es sind in Pennsylvania nur noch etwa 4.500) den Klimawandel ernst nehmen und Schweiß, Dreck und Staublunge hinter sich lassen würden, wenn die Alternative ein gesünderer und besser bezahlter Arbeitsplatz ist?

Antiisraelische Demo­krat:innen bei der Stange halten

Harris und ihre Wahlkampf­stra­teg:in­nen halten es offenbar für zu gewagt, offensiv für den »Green New Deal« zu werben, der immense staatliche Investitionen vorsieht, um die Dekarbonisierung voranzutreiben und zugleich Wohnraum, eine bessere Infrastruktur und Arbeitsplätze mit gewerkschaft­licher Organisierung zu schaffen. Die Reaktion von Unentschlossenen und Wechselwähler:innen auf kontroverse Themen steht im Mittelpunkt. Die ­Risiken sollen minimiert werden, und da das Thema Klimawandel von dieser Zielgruppe mutmaßlich als weniger dringlich wahrgenommen wird, stellt man lieber die Förderung wirtschaft­lichen Wachstums in den Vordergrund.

Doch diese Strategie birgt Risiken. Jill Stein (Green Party) kann die Demokraten bei der Präsidentschaftswahl entscheidende Stimmen kosten – weniger von enttäuschten Umwelt­schüt­zer:in­nen als vielmehr von jenen, die die Israel-Politik von Biden und Harris ablehnen; das gilt vor allem für Michigan. Zur Illustration, wie knapp es werden kann, kann das Beispiel des benachbarten Wisconsin dienen: 2016 gewann Trump dort mit einem Vorsprung von knapp 23.000 Stimmen, Jill Stein erhielt 30.000 Stimmen. 2020 trat sie nicht an, Biden siegte mit einem Vorsprung von 21.000 Stimmen. Bei dieser Wahl kandidiert sie wieder.

Der Versuch, antiisraelische Demo­krat:innen bei der Stange zu halten, hat wohl sogar Auswirkungen auf die internationale Politik. Seit Monaten mahnen Harris und Biden den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netan­yahu immer wieder zur Zurückhaltung in der Kriegführung. Außenpolitisch dürfte das eher kontraproduktiv sein, denn ein Regierungsoberhaupt gibt eher nach, wenn nicht für alle Welt offenkundig ist, dass er dem Willen einer ausländischen Regierung folgt. Man darf der US-Regierung die Fähigkeit zutrauen, Netanyahu unter Druck zu ­setzen, ohne dass die Öffentlichkeit umgehend davon erfährt. Dass der Brief vom 13. Oktober, in dem Außenminister Antony Blinken und Verteidigungs­minister Lloyd Austin mit einer Einstellung der Waffenlieferungen drohten, wenn nicht binnen 30 Tagen mehr humanitäre Hilfe den Gaza-Streifen erreiche, an die Öffentlichkeit gelangte, war daher wohl beabsichtigt.

Palästina-Kult nimmt parareligiöse Formen an

Der Erfolg solcher Manöver dürfte ausbleiben, denn Harris und Biden bekräftigen zugleich ihre grundsätzlich proisraelische Haltung. Der Palästina-Kult nimmt jedoch mehr und mehr parareligiöse Formen an, ein pseudolinkes Pendant zur »alternativen Realität« der Rechtsextremen. Die Frage ist allein, wie viele Sympathisant:innen der relativ kleine harte Kern der Bewegung in ihrer Wahlentscheidung beeinflussen kann.

Wenn es um das Präsidentenamt geht, herrscht in den USA ein Zweiparteiensystem. Man kann kritisieren, dass Harris zu wenig über den »Green New Deal« spricht; dies könnte ein strategischer Fehler sein. Man sollte sich aber nicht der Illusion hingeben, alles liefe besser, wenn Harris nur konsequent ein linkes Programm verträte. An dem Versuch etwa, an Trump zweifelnde oder verzweifelnde Konservative zu gewinnen, führt kein Weg vorbei. Diese Wähler:innengruppe ist eindeutig identifizierbar, weit weniger klar ist hin­gegen, wie Unentschlossene und Unzufriedene überzeugt werden können, da sich eben nicht nur unter Rechten Irrationalität ausbreitet.

Als Präsident würde Trump nicht alle seiner wüsten Drohungen umgehend wahr machen können, doch das Project 2025 zum autoritären Umbau des Staats dürfte einen langen Atem ­haben. 

Auch den Wähler:innen, so sollte man meinen, müsste ihre Verantwortung klar sein. Als Präsident würde Trump nicht alle seiner wüsten Drohungen umgehend wahr machen können, doch das Project 2025, ein Zusammenschluss des neuen rechtsextremen ­Establishments der Republikanischen Partei, dürfte einen langen Atem ­haben. Es verfolgt ein 900seitiges Programm zum autoritären Umbau des Staats, das über Viktor Orbáns »illiberale Demokratie« deutlich hinausgeht. So ist etwa eine »Säuberung« der staatlichen Verwaltung geplant, alle wichtigen Posten sollen mit republikanischen Loyalist:innen besetzt und Aufsichtsbehörden so weit geschwächt werden, dass der »unternehmerischen Freiheit« nichts mehr im Weg steht.

Mit Ausnahme von Teilen der Justiz haben die Institutionen die erste Amtszeit Trumps weitgehend unbeschadet überstanden, doch ist fraglich, ob sie einem besser organisierten Ansturm standhalten können. Absehbar ist zudem ein Anstieg von Polizeigewalt und rechtsextremem Terror. Es droht eine offizielle Abkehr von jeglicher Klimaschutzpolitik mit desaströsen Auswirkungen auf internationale Bemühungen, die Erderwärmung zu bremsen. Dennoch liegt auch in der popular vote die Vernunft nur wenige Prozentpunkte vor dem reaktionären Wahn.