Das ist kein Hexenwerk
Während zahlreiche Kinder sich am frühen Abend des 31. Oktober auf ihren Halloween-Beutezug vorbereiten, stellen andere für die Ahnen ein Gedeck mehr auf den Tisch, schmücken den Hausaltar und entzünden Räucherwerk. Ihnen gilt der Tag als Samhain, als Hexenneujahr, und als besonders günstige Gelegenheit, in Kontakt mit Verstorbenen zu treten oder zu orakeln. Diese Deutung beruft sich auf eine keltische Tradition, ist aber wie alles im modernen westlichen Hexenwesen eine neuheidnische Erfindung.
Die Identifizierung mit dem Wahnbild einer vergangenen Epoche kann eine harmlose Marotte sein, doch wie fast immer in der Identitätspolitik drohen Gefahren, und jene, in einem der zahlreichen Hexerei-Shops ausgenommen zu werden, ist noch die geringste. So stärkt sowohl in der Vergangenheit als auch heutzutage der feministische Hexenkult esoterische Strömungen, die eine vermeintlich natürliche Weiblichkeit wiederentdecken wollen.
»Ich will der erste sein, der Feuer an sie legt«, bekundete Martin Luther in seiner »Hexenpredigt« 1526.
Auch Männerbünde können Gefallen an Hexen finden. Der Reichsführer SS Heinrich Himmler verwendete viel Mühe darauf, die Hexenverfolgung als Vernichtung des »altgermanischen Erbes« mit seinen »Kräuterfrauen« darzustellen. Derzeit dominiert in der extremen Rechten die Identifizierung mit den Opfern, nicht nur Donald Trump wähnt sich als Opfer einer »Hexenjagd«. Allerdings nimmt die Hetze gegen »kinderlose Katzenfrauen« auch auf andere Weise auf den Hexenglauben Bezug: Frauen, die sich der Mutterschaft verweigern und mit dem Teufel assoziierte Tiere lieben, sind verdächtig. Und der US-amerikanische Pastor Lance Wallnau behauptet, Kamala Harris sei vom Teufel gesandt und praktiziere wirksame Hexenmagie.
Was aber macht Hexenmythen so reizvoll? Die bedeutendsten wurden geschichtswissenschaftlich längst widerlegt. Es gab rudimentäre bäuerliche Kräutermedizin, aber keine Schwesternschaft von »Kräuterfrauen«, die gefahrlose Verhütungs- und Abtreibungsmethoden oder Heilmittel kannten, die sie zu einer Konkurrenz für städtische Mediziner gemacht hätten – die ohnehin nicht auf die Idee gekommen wären, in die Dörfer zu gehen, um arme Bauern zu behandeln.
Hexenverfolgung war sporadisch
Auch die Behauptung, es habe eine allumfassende Hexenjagd mit Millionen Opfer gegeben, ist falsch. In der Geschichtswissenschaft geht man europaweit für den Zeitraum von 1450 bis 1750 von 60.000 bis 70.000 Hinrichtungen wegen Hexerei aus, also etwa 200 pro Jahr. Um diese Zahl ins Verhältnis zu setzen: Henry VIII. (der bei der Anklage gegen Anne Boleyn auf den Vorwurf der Hexerei verzichtete) schaffte zehnmal so viel, die Zahl der in England während seiner Regierungszeit von 1509 bis 1547 Hingerichteten wird auf 72.000 geschätzt.
Die Hexenverfolgung war sporadisch, viele Regionen Europas blieben verschont. War sie einmal in Gang gekommen, sorgten durch Folter erzwungene Beschuldigungen für die schnelle Vermehrung der Zahl der Angeklagten. Bei aller gebotenen Vorsicht lässt sich wohl sagen, dass im dörflichen Milieu meist Außenseiterinnen von rachsüchtigen Patriarchen verfolgt wurden, während in den Städten, wo es oft um viel Geld ging (Denunziant:innen erhielten eine Belohnung, meist ein Drittel des Vermögens der Denunzierten), eher reiche Frauen und Adlige beschuldigt wurden.
Vor allem die kaum zu übersehende destruktive Dynamik solcher Prozesse sorgte schnell für Kritik. Doch kann man davon ausgehen, dass die Hexenverfolger an ihre Mission glaubten. Gewissermaßen als mildernder Umstand muss hier allerdings berücksichtigt werden, dass man in der Frühen Neuzeit nur Naturgewohnheiten kannte, aber keine Naturgesetze. Geschah etwas Außergewöhnliches, hätte kaum jemand bezweifelt, dass als Ursache nur Gottes Wille oder Teufels Beitrag in Betracht kam.
Verkaufsschlager »Hexenhammer«
So argumentierten auch die damaligen Gegner der Hexenverfolgung auf theologischer Grundlage. Da alles nach dem Willen Gottes geschehe, könne es keinen teuflischen Schadzauber geben und eine Bestrafung sei nur für den Abfall vom Glauben gerechtfertigt, wenn jemand einen Pakt mit dem Teufel schließe. Diese Ansicht hatte im Frühmittelalter dominiert, als man den Menschen als ein Gottes Willen ausgeliefertes Wesen betrachtete, das dessen Strafen nur durch Gebet, Reue und Buße abwenden konnte.
Das änderte sich, als mit den Fortschritten bei der Naturbeherrschung, den Erkenntnissen über die Welt außerhalb Europas, der sich über den engen Kreis der Geistlichkeit hinaus verbreitenden Bildung und der Neuerfindung der Antike in Renaissance und Humanismus ein neues philosophisches Weltbild aufkam. Man traute dem Menschen nun mehr zu – auch ein Bündnis mit dem Teufel, das zu Schadzauber ermächtigt. Denn die Gelehrten glaubten weiterhin an göttliche Zeichen und Dämonen, diesen Phänomenen galt es nun systematisch beizukommen.
So ist der »Hexenhammer« von Heinrich Kramer und Jakob Sprenger, erstmals 1486 veröffentlicht, aus heutiger Sicht ein pseudowissenschaftliches Werk. Das Buch entspricht mit seiner auf Quellen und Fallbeispielen beruhenden systematischen Abhandlung des Hexenwesens jedoch höchsten Ansprüchen damaliger Gelehrsamkeit. Und es war ein Verkaufsschlager.
Orthodoxe Kirche und islamische Welt keineswegs frauenfreundlicher
Einflussreich waren auch der »Formicarius« (Ameisenhaufen) Johannes Niders (1475) und der »Laienspiegel« Ulrich Tenglers (1509), doch es war vor allem der »Hexenhammer«, der die Leitlinie vorgab und maßgeblich dafür war, dass überwiegend Frauen wegen Hexerei hingerichtet wurden: »Es heißt nämlich femina, fe (fides, Glaube) und minus (weniger), weil sie regelmäßig weniger Glauben hat und bewahrt.« Mit besonderem Eifer widmet sich der »Hexenhammer« vermeintlichen sexuellen Vorgängen. Es liegt nahe, dies als sexualneurotische Projektion von Vocels, voluntary celibates, zu sehen; Kramer und Sprenger waren Dominikanermönche. Doch Luther teilte die Ansicht, dass Frauen anfälliger für die Versuchungen Satans seien, der sich deshalb an Eva und nicht an Adam gewandt habe.
Mindestens ein Fünftel der wegen Hexerei Hingerichteten waren Männer (in Skandinavien stellten sie sogar die Mehrheit), ein zu hoher Anteil, als dass man sie als Kollateralschäden einer auf Frauen ausgerichteten Kampagne betrachten könnte. Überdies waren die orthodoxe Kirche, in deren Machtbereich es fast keine Hexenverfolgung gab, und die islamische Welt, die den Hexenwahn ebenfalls nicht kannte, keineswegs frauenfreundlicher. Im Kirchenstaat und in Irland gab es kaum Hexenprozesse, selbst die berüchtigte spanische Inquisition verfolgte Hexen nur selten.
Überhaupt war die katholische Amtskirche nicht so eifrig, wie ihr oft unterstellt wird. Sie hatte die Rechtsgrundlage – bereits 1484 legitimierte Papst Innozenz VIII. in seiner »Hexenbulle« die Verfolgung – und die Ideologie geliefert, Hexenprozesse wurden aber meist von der weltlichen Obrigkeit initiiert. In erheblichem Ausmaß war die Hexenverfolgung eine deutsche Angelegenheit, genauer gesagt: Etwa die Hälfte der Hinrichtungen fanden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation statt. Konfessionelle Unterschiede gab es nicht. »Ich will der erste sein, der Feuer an sie legt«, bekundete Luther in seiner »Hexenpredigt« 1526.
Massenhysterie und apokalyptische Ängste
Die regionale Verteilung der Hexenprozesse war recht unterschiedlich. Es gab eine Häufung in süddeutschen Gebieten, die vom Bauernkrieg betroffen gewesen waren, in denen die Obrigkeit also möglicherweise mehr Anlass sah, die Bevölkerung ideologisch zu disziplinieren und einzuschüchtern. Doch lässt sich so erklären, warum allein im damals etwa 10.000 Einwohner:innen zählenden Bamberg von 1595 bis 1631 in drei Verfolgungswellen mindestens 880 Menschen hingerichtet wurden? Wahrscheinlicher ist, dass im Heiligen Römischen Reich, dem Zentrum von Reformation und apokalyptischen Bewegungen, mehr Hexenprozesse stattfanden als anderswo, weil religiöser Fanatismus weiter verbreitet war.
Es herrscht in der Geschichtswissenschaft weitgehend Einigkeit darüber, dass es keine monokausale Erklärung für die Hexenverfolgung gibt. Massenhysterie und apokalyptische Ängste, genährt durch reale Krisenerscheinungen wie die Folgen der Klimaveränderungen in der »Kleinen Eiszeit«, die Teuerung und die durch den aufsteigenden Handelskapitalismus bewirkten sozialen Veränderungen, spielten eine Rolle. Als sicher kann gelten, dass der damalige »Fortschritt« die Hexenverfolgung begünstigt, wohl gar erst ermöglicht hat.
Buchdruck sorgte für schnelle Verbreitung des nötigen »Wissens«
Hatte die feudale Obrigkeit zuvor nur auf Bedrohungen reagiert, war der stärker zentralisierte frühneuzeitliche »Fürstenstaat« mit seiner zunächst noch rudimentären Bürokratie in der Lage, eine Strafverfolgung zu initiieren. Der Bauernkrieg (1524/1525) und die der Reformation folgenden konfessionellen Kämpfe ließen es den Herrschern ratsam erscheinen, sich mehr dafür zu interessieren, was ihre Untertan:innen glauben, und sie stärker zu disziplinieren. Der Buchdruck sorgte für die schnelle Verbreitung des für die Hexenverfolgung nötigen »Wissens«.
Dazu gehörte die Vorstellung, Frauen seien anfälliger für die Versuchungen Satans als Männer. Für die Patriarchen lag es nahe, unangepasstes oder auch nur seltsames Verhalten sowie eine aus Sicht der Verfolger verdächtige Herkunft von Frauen als Zeichen für deren Bund mit dem Teufel zu werten. Das prägte die Verfolgungspraxis, wie unter anderem die gut dokumentierten Hexenprozesse von Salem 1692 in Neuengland belegen, die zu 19 Hinrichtungen führten.
Nachdem in den Niederlanden der rechtsextreme Politiker Geert Wilders die stellvertretende Ministerpräsidentin Sigrid Kaag im vergangenen Jahr als »Hexe« bezeichnet hatte, wurde sie von Demonstranten mit brennenden Fackeln bedrängt.
Die ersten beschuldigten Frauen waren Sarah Good, durch Verarmung zum Betteln gezwungene Tochter eines französischen Gastwirts, Sarah Osborne, die juristisch erfolgreich ihre Rechte gegen männliche Erben durchgesetzt hatte, und Tituba, eine Sklavin mutmaßlich karibischer Herkunft, der heidnische Praktiken unterstellt wurden.
Derzeit sammeln niederländische Feministinnen Spenden für ein Nationaal Heksenmonument, das an die »Opfer des Femizids« erinnern soll. Man kann sicherlich von geschlechtsspezifischer Verfolgung sprechen, auch wenn der moderne Begriff das Phänomen der Hexenverfolgung nicht vollständig erfasst.
Auch in der Gegenwart finden Wahnbilder toxischer Männlichkeit mit Hilfe neuer Medien schnelle Verbreitung. Nachdem in den Niederlanden der rechtsextreme Politiker Geert Wilders die stellvertretende Ministerpräsidentin Sigrid Kaag im vergangenen Jahr als »Hexe« bezeichnet hatte, wurde sie von Demonstranten mit brennenden Fackeln bedrängt; wegen der Drohungen zog sie sich aus der niederländischen Politik zurück.