Trotzkistische U-Boote
Der Antizionismus in der deutschen Linken hat nach dem 7. Oktober sicher zugenommen, neu ist er aber nicht. Manche Figuren, die nun viel Aufmerksamkeit erhalten, haben solche Positionen schon lange vertreten und daran gearbeitet, sie in der Linken salonfähig zu machen.
Am 11. Mai 2022 zum Beispiel lud der Neuköllner Bezirksverband der Linkspartei zusammen mit der parteieigenen Hochschulgruppe Die Linke – SDS, den Expat-Gruppen The Left Berlin und Die Linke Internationals sowie der BDS-nahen Gruppe »Palästina spricht« ins Kulturzentrum Oyoun in Neukölln. Thema: »Palästinensische Stimmen in Deutschland: Wie kann die Unterdrückung enden?«
Bereits vor zwei Jahren sprach Ramsis Kilani von einem »ersten Teilerfolg« für die Gruppe »Palästina spricht«. Es habe erste »gemeinsame Veranstaltungen« mit der Linkspartei gegeben.
Bei dem Treffen ging es darum, wie man »diese schwierige Partei« ein »Stück weit verändern« könne – das sagte Ahmed Abed, der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei in der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln, auf dem Podium. Er vertrat 2021 die BDS-Bewegung als Anwalt bei einer Klage gegen den Anti-BDS-Beschluss des Bundestags.
Ramsis Kilani ist Sprecher von »Palästina spricht« und ebenfalls Mitglied der Neuköllner Linkspartei. Er stammt aus einer palästinensischen Familie. 2014 tötete die israelische Armee bei einem Luftangriff im Gaza-Streifen seinen Vater und fünf seiner Halbgeschwister. Im Oyoun sprach Kilani von einem »ersten Teilerfolg« für »Palästina spricht«. Es handle sich um die erste »gemeinsame Veranstaltung mit der Partei«. Außerdem würde es »Anknüpfungspunkte an andere Jugendbewegungen« geben, sagte er.
»Fest an der Seite des palästinensischen Befreiungskampfes«
Das Treffen 2022 im Oyoun gibt wohl einen Einblick in die Strategie von innerparteilichen trotzkistischen Gruppe wie Marx21, der parteiunabhängigen trotzkistischen Gruppe »Sozialismus von unten«, von »Palästina spricht« und Teilen des Neuköllner Bezirksverbands der Linkspartei – Ramsis Kilani ist Mitglied in allen Gruppen.
Am 7. Oktober 2023 schrieb Kilani auf X, er stehe »fest und solidarisch an der Seite des palästinensischen Befreiungskampfes.« Ein Jahr später vertritt er offenbar immer noch dieselbe Ansicht über den »Befreiungskampf«: Die Hamas bilde »heldenhaft selbstaufopfernd die letzte Linie (für) Gazas Selbstverteidigung«, zitiert ihn der Tagesspiegel.
Auf dem Bundesparteitag der Linkspartei Ende Oktober sammelten Delegierte 150 Unterschriften für eine Solidaritätsadresse – für Parteimitglieder, »die aktuell wegen ihres Engagements in der Palästina-Solidarität mit unlauteren Vorwürfen angegriffen werden«. Namentlich genannt wurde unter anderem Ramsis Kilani.
Bei dem Parteitag fand nach langen Verhandlungen eine Kompromissformel zum Antisemitismus eine Mehrheit: Wer das »Existenzrecht Israels« in Frage stelle und den »Terror der Hamas« relativiere, könne kein »Bündnispartner« sein, hieß es darin unter anderem.
Solche Beschlüsse seien »das Papier nicht wert, auf dem sie stehen«, schrieb Sebastian Schlüsselburg (Linkspartei), Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, kurz darauf auf seiner Website. Stattdessen brauche es Unvereinbarkeitsbeschlüsse »mit ›Palästina spricht‹, ›Sozialismus von unten‹ und ja auch ›Marx 21‹«. Zusammen mit dem ehemaligen Berliner Kultursenator Klaus Lederer, der ehemaligen Sozialsenatorin Elke Breitenbach und zwei weiteren Abgeordneten verließ Schlüsselburg nach dem Parteitag die Partei. Bereits zwei Tage zuvor hatte Henriette Quade, Landtagsabgeordnete in Sachsen-Anhalt, diesen Schritt vollzogen.
Konflikt kleinreden
Eine Woche vor dem Bundesparteitag war es beim Landesparteitag in Berlin zum offenen Konflikt gekommen. Dort war eine Beschlussvorlage »gegen jeden Antisemitismus« eingebracht worden. Es fand jedoch ein Änderungsantrag Zustimmung, der die Vorlage deutlich abwandelte. Aus Protest dagegen verließen mehrere Unterstützer des ursprünglichen Antrags den Saal, darunter die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau und mehrere Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses wie Lederer und Breitenbach. Zahlreiche Medien berichteten.
Der Streit kam der Partei sehr ungelegen, die kurz darauf beim Bundesparteitag Einigkeit demonstrieren wollte. Ferat Koçak, der für die Linkspartei im Abgeordnetenhaus sitzt und Mitglied des Neuköllner Bezirksverbands ist, gab dem Magazin Jacobin ein Interview, um den Konflikt kleinzureden. Es sei alles »ein ganz normaler Vorgang« gewesen. Er betonte, dass der Änderungsantrag nicht vom Neuköllner Bezirksverband ausgegangen sei. Das zeige, »dass gewisse Positionen in diesem Landesverband inzwischen mehrheitsfähig sind und nicht einfach einem vermeintlich radikalen Bezirksverband in die Schuhe geschoben werden können«.
Die politische Bedeutung des Vorgangs zeigt sich im Lichte der Aktivitäten von antizionistischen Gruppen wie »Sozialismus von unten« oder »Palästina spricht«. Denn die ursprünglich eingebrachte Vorlage enthielt Passagen, die als klare Verurteilung solcher Gruppen verstanden werden können, zum Beispiel: »Dass von sich politisch links verortenden Menschen das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 u. a. an Kleinkindern, Familien und Festivalbesucher:innen relativiert und mitunter gar gefeiert wurde oder zur Vernichtung Israels aufgerufen wird, alarmiert uns zutiefst.« Dem Änderungsantrag entsprechend wurde dieser Satz ersatzlos gestrichen.
»Weiterentwicklung« zu einer »revolutionären Organisierung«
Ziel von Marx21 ist die »Weiterentwicklung« der Linkspartei hin zu einer »revolutionären Organisierung«, schreibt das Netzwerk auf seiner Website. Das Massaker der Hamas vom 7. Oktober bezeichnete es zwei Tage danach als »Gegenschlag« und »Widerstand«. Zugleich plädierte es für eine Zusammenarbeit mit »Palästina spricht« und dem palästinensischen Gefangenennetzwerk Samidoun, das die Gräuel der Hamas am 7. Oktober in Neukölln mit Baklava feierte. Samidoun wurde kurz darauf – Anfang November 2023 – verboten. Es galt als Vorfeldorganisation der Terrorgruppe PFLP, deren Mitglieder am Hamas-Massaker am 7. Oktober teilgenommen hatten.
»Sozialismus von unten« schreibt auf ihrer Website, der »zionistische israelische Staat« müsse »im Zuge eines antiimperialistischen, revolutionären Aufstands in der gesamten Region zerstört werden. Dafür kommt einer sozialistischen Organisation eine wichtige Rolle zu.« Mit ihrer »Schwerpunktsetzung« auf die »außerparlamentarische Bewegung« entfalte man auch eine »Wirkung auf die Linke«, schrieb die Gruppe in einer Stellungnahme zum Bundesparteitag der Linkspartei.
Nach dem Bundesparteitag veranstaltete die Gruppe ein Treffen mit dem Titel »Nach dem Linke-Parteitag: Was will Sozialismus von unten?«. Die Linkspartei-Politikerin Christine Buchholz sprach dort von den »sehr grundlegenden Problemen«, die sie mit den Beschlüssen auf dem Parteitag hatte. Ein anderes Mitglied, Martin Teicher, freute sich jedoch, dass »150 Leute für Kilani« unterschrieben hätten und sich der »linke Parteiflügel« »wieder gezeigt« habe.
Christine Buchholz flankiert die den Islamismus verharmlosenden Bestrebungen in der Partei mit ihrem Engagement gegen »antimuslimischen Rassismus«.
Buchholz ist Mitglied bei »Sozialismus von unten« und war nach Eigenaussage auch »Unterstützerin« von Marx21. Sie war 2022 im Oyoun ebenfalls dabei. Für die Linkspartei saß sie von 2009 bis 2021 im Bundestag. Als 2010 am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus der israelische Staatspräsident Shimon Peres im Bundestag sprach, erhoben sich anschließend alle Abgeordneten – bis auf Sahra Wagenknecht (damals noch Linkspartei) und Buchholz. Letztere flankiert die den Islamismus verharmlosenden Bestrebungen in der Partei mit ihrem Engagement gegen »antimuslimischen Rassismus«. In einem auf X geteilten Video der Gruppe Claim – Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit sagt sie 2023: Manchmal werde »antimuslimischer Rassismus« »mit scheinbar fortschrittlichen Argumenten« begründet wie »Frauenrechten« oder »Religionskritik«.
Die Gruppe »Palästina spricht« setzt sich nach Selbstauskunft für »palästinensische Rechte« ein. Schon lange vor dem 7. Oktober – und vor der Veranstaltung im Oyoun – bezeichnete sie Israel auf Facebook als »Siedlerentität« und »Kolonialregime«, das »mit allen notwendigen Mitteln« »beseitigt« werden müsse. Den 7. Oktober feierte sie als »revolutionären Tag«, auf den man »stolz sein« könne.
Zusammen mit »Sozialismus von unten« und »Palästina spricht« organisierte der Bezirksverband der Neuköllner Linkspartei im August die Kundgebung »Beats Against Genocide« in Berlin-Kreuzberg. Ferat Koçak war als Redner angekündigt. Versammlungsleiter und Anmelder war dem Tagesspiegel zufolge Daniel Anton, Vorstandsmitglied bei der Neuköllner Linkspartei und Mitarbeiter im »Team« von Koçak, wie es auf dessen Website heißt. Bei der Demonstration kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Später schrieb Koçak – der 2025 für den Bundestag kandidieren will – auf seiner Website, nur »drei bis vier Personen« hätten »Hamas, Hamas« gerufen, »was ich auch in Anwesenheit der Presse als problematisch bezeichnet habe«.