Korrigierte Karte
Paris. Nach manchen Staatsbesuchen ist die Welt eine andere als zuvor – zumindest auf der Landkarten. In Frankreich geschah dies stillschweigend über Nacht. Bis zum 29. Oktober tauchte auf den offiziellen Websites des Quai d’Orsay, des französischen Außenministeriums, das marokkanische Staatsgebiet in gelber Farbe auf, das Gebiet der Westsahara war gelb schraffiert. Urplötzlich verschwand nun die Schraffierung, das marokkanische Territorium in durchgehender Gelbfärbung hatte sich über Nacht um 40 Prozent vergrößert – damit wird der Anspruch Marokkos auf das von ihm okkupierte und beanspruchte Territorium der Westsahara anerkannt. Das war den Medien schnell aufgefallen, denn gänzlich unerwartet kam die Korrektur der politischen Geographie in Frankreich nicht.
Sie steht in wohl nicht nur zeitlichem Zusammenhang mit dem Staatsbesuch von Präsident Emmanuel Macron in Marokko vom 28. bis 30. Oktober. Am 29. Oktober sprach Macron vor dem marokkanischen Parlament und erntete stehende Ovationen für die Aussage, dass »die Gegenwart und Zukunft dieses Territoriums« – der Westsahara – »unter die Souveränität Marokkos« fielen. Umgehend korrigierte das Außenministerium dann die Landkarten entsprechend der neuen Vorgabe.
Macron war in Begleitung von neun Ministern, aber auch einer Delegation von 40 Unternehmensvertretern gereist, die unter anderem Konzerne wie Alstom und Airbus repräsentierten. Mit Marokko wurden insgesamt 22 bilaterale Vereinbarungen unter anderem zu Investitionen unterzeichnet, die nach offiziellen Angaben ein Handelsvolumen von zehn Milliarden Euro umfassen.
Marokko soll mehr als unerwünscht geltende, insbesondere straffällig gewordene Migranten aus Frankreich zurücknehmen.
Ein wichtiges Thema war jedoch auch die Migrationspolitik, die der Hintergrund für das grenzverändernde Zugeständnis an Marokko gewesen sein dürfte. Am 30. Oktober unterzeichneten die beiden Staatsoberhäupter Macron und Mohammed VI., der König von Marokko, eine Vereinbarung über »verstärkte Partnerschaft« in Migrationsfragen. Marokko soll mehr als unerwünscht geltende, insbesondere straffällig gewordene Migranten aus Frankreich zurücknehmen.
In der Vergangenheit hatte sich die französische Regierung oft darüber beschwert, die bei marokkanischen Zuwanderern ohne gültigen Pass für Abschiebungen erforderlichen konsularischen Papiere seien zu spät ausgestellt worden. Bislang kann Abschiebegewahrsam in Frankreich eine gesetzlich zulässige Höchstdauer von 90 Tagen nicht überschreiten, Innenminister Bruno Retailleau plant allerdings für Anfang 2025 eine Gesetzesnovelle, die unter anderem dessen Ausdehnung auf 210 Tage beinhalten soll.
Bereits im September 2021 hatte Retailleaus Amtsvorgänger Gérald Darmanin angekündigt, die Zahl der ausgestellten Visa in den französischen Konsulaten in Marokko und Algerien um 50 Prozent zu reduzieren – eine Repressalie wegen aus französischer Sicht unzureichender Kooperation bei der Rücknahme unerwünschter Staatsangehöriger dieser Länder. Die Maßnahme wurde offiziell im Dezember 2022 ausgesetzt. Gern gesehenen Geschäftsleuten und Wissenschaftlern aus Marokko sollen künftig wieder mehr Visa ausgestellt werden, im Austausch gegen eine verstärkte Kooperation bei der Rücknahme von Illegalisierten.
Marokkos Kooperationsbereitschaft bei der Migrationskontrolle
Marokko hatte wiederholt seine Kooperationsbereitschaft bei der Migrationskontrolle mit der Unterstützung seiner Westsahara-Politik verknüpft und konnte nunmehr einen weiteren diplomatischen Erfolg erzielen. Die Kolonie Spanisch-Sahara war 1975, nach dem Tod des langjährigen Diktators Francisco Franco, aufgegeben und im Februar 1976 von allen spanischen Soldaten geräumt worden. Im Zuge dessen forderte jedoch Marokko unter dem damaligem König Hassan II. – Vater des jetzigen Monarchen Mohammed VI. – das Gebiet für sich.
Bereits im November 1975 organisierte der autokratisch regierende Herrscher den »grünen Marsch«, bei dem 350.000 Menschen aus dem Süden Marokkos in die ehemalige spanische Kolonie marschierten, um die Inbesitznahme zu legitimieren, und entsandte später Tausende marokkanischer Kolonisten, um das zwischen Marokko und Mauretanien liegende Territorium zu besiedeln. Derzeit leben in der Westsahara rund 600.000 Menschen. Von ökonomischem Interesse ist das Gebiet vor allem wegen der Phosphatvorkommen, die zu den größten der Welt gehören.
Gegen den Einmarsch Marokkos hatte sich eine Guerillabewegung gebildet, der Frente Polisario, und den bewaffneten Kampf aufgenommen. Viele Einwohner flohen, derzeit leben 165.000 Flüchtlinge im östlichen Nachbarstaat Algerien und weitere 26 000 im südlich angrenzenden Mauretanien. 1991 wurde ein Waffenstillstand vereinbart, den der Frente Polisario 2020 aufkündigte; zu größeren Gefechten kam es jedoch nicht. Das Hauptquartier der Guerillaorganisation liegt im algerischen Tindouf und der dort ansässige politisch-militärische Apparat der Organisation ist mittlerweile eng mit der algerischen Armee verquickt.
Vor dem Hintergrund langjähriger Rivalitäten zwischen den beiden Hauptmächten des Maghreb unterstützt Algerien nach wie vor die Forderung nach einem Abzug Marokkos und einer Unabhängigkeit der Westsahara.
Normalisierung der Beziehungen Marokkos zu Israel
Dies hat lange Zeit auch die Afrikanische Union (AU) unterstützt, deren Mitglied die Westsahara unter dem Namen Demokratische Arabische Republik Sahara ist. Marokko hatte die Organisation wegen der Aufnahme 1984 zunächst verlassen, war jedoch 2017 zurückgekehrt. Seitdem haben sich die Verhältnisse geändert. Im Juli dieses Jahres beschloss der Exekutivrat der AU bei einer Sitzung in Ghanas Hauptstadt Accra, Vertreter des Frente Polisario künftig von allen Treffen »mit internationalen Partnern« auszuschließen.
Bei den Vereinten Nationen hat die Westsahara nach wie vor den Status eines »Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung«, also eines zur staatlichen Selbstbestimmung berechtigten Gebiets. Dies legt im Prinzip die gültige Norm fest. Doch der Gebietsanspruch Marokkos beginnt, sich durchzusetzen
Ende 2020 erkannte ihn der damalige US-Präsident Donald Trump an, ein Zugeständnis für die Normalisierung der Beziehungen Marokkos zu Israel.
EU-Politikern geht es vor allem um die Migrationspolitik. Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez vollzog im März 2022 eine abrupte Kehrtwendung und erkannte die marokkanische Souveränität über die Westsahara an, Marokko sollte dadurch zu einem schärferen Vorgehen gegen die sogenannte irreguläre Migration über die Kanarischen Inseln und das Mittelmeer bewegt werden. Dem folgt nun auch Frankreich, das allerdings damit rechnen muss, dass die Kooperationsbereitschaft algerischer Behörden in der Migrationspolitik weiter sinkt.