Kann statt muss
155 Frauen wurden im Jahr 2023 in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet – fast jeden zweiten Tag eine Tote. 176 weitere Frauen wurden Opfer von versuchtem Mord oder versuchtem Totschlag. Das geht aus dem Bundeslagebild Häusliche Gewalt des Bundeskriminalamtes hervor. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 180 715 Fälle häuslicher Gewalt gegen Frauen gezählt.
Die Istanbul-Konvention stuft häusliche Gewalt als Menschenrechtsverletzung ein und verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. In Deutschland trat die Konvention 2018 in Kraft. Damit ist die Bundesregierung völkerrechtlich verpflichtet, Gesetze einzuführen, um die dort festgelegten Ziele einzuhalten.
Deutschland müsste also aktiv gegen häusliche Gewalt vorgehen – zumal sich diese weiter ausbreitet. Der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes zufolge ist die Partnerschaftsgewalt in den vergangenen fünf Jahren um 20 Prozent angestiegen. In Deutschland gebe es derzeit nur 7.000 Frauenhausplätze, obwohl es nach der Istanbul-Konvention rund 21.000 Plätze geben müsste.
Auf Anfrage der Jungle World kritisiert das Berliner Frauenzentrum Flotte Lotte die mangelnde Versorgung für Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden. Auch sei die »Förderung der zivilgesellschaftlichen Arbeit gegen geschlechtsspezifische Gewalt« unzureichend.
Mehr als ein Viertel der Frauen, die im vergangenen Jahr in Frauenhäusern unterkamen, mussten die Kosten des Aufenthalts entweder ganz oder anteilig selbst übernehmen.
Die Regierungskoalition versprach zu Anfang ihrer Legislaturperiode eine Verbesserung und kündigte das sogenannte Gewalthilfegesetz an. Vor einem Jahr wurden die Eckpunkte des Gesetzesentwurfes veröffentlicht, doch seitdem ist außer einem Diskussionsentwurf nichts Weiteres zustande gekommen. »Seit einem Jahr warten wir auf den Referentenentwurf«, sagte Sibylle Schreiber, die Geschäftsführerin des Vereins Frauenhauskoordinierung der Jungle World.
Dem Spiegel zufolge hat das von Lisa Paus (Grüne) geführte Familienministerium einen fertigen Gesetzentwurf ausgearbeitet, doch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bremst; es liegt offenbar am Geld. Die frauenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Nicole Bauer, sagte dem Spiegel, vom Familienministerium müsse »zeitnah eine Lösung gefunden werden, die finanziell tragfähig und rechtlich belastbar ist«. Es wachsen die Zweifel, dass das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird. »Wir haben gehört, wenn der Gesetzesentwurf Anfang Dezember nicht rauskommt, dann können wir unsere Hoffnung begraben«, so Schreiber.
Ausbau von Täterarbeit
Ein erstes Diskussionspapier sieht einige Verbesserungen zum Schutz vor häuslicher Gewalt vor. Betroffene sollen einen rechtlichen Anspruch auf kostenfreie Beratung und Schutz an Ort und Stelle bekommen – also wenn nötig auf einen Platz in einem Frauenhaus. Außerdem sollen Fachkräfte an Schulen besser für geschlechtsspezifische Gewalt sensibilisiert werden. Ferner ist ein Ausbau von Täterarbeit vorgesehen – gemeint sind Beratungsangebote für Menschen, die Gewalt in ihrer Partnerschaft ausgeübt haben, womit verhindert werden soll, dass dies noch einmal geschieht. Oft werden Täter gerichtlich dazu verpflichtet, an solchen Programmen teilzunehmen.
Auf die Frage, was sie von dem Entwurf hält, antwortet Sibylle Schreiber: »Das wäre großartig! Dann wäre Frauengewaltschutz nicht nur ein ›Kann‹, das es gibt, wenn eine Stadt Geld übrig hat«, vielmehr müsste dann »jede Kommune, jedes Bundesland dafür sorgen, dass es ausreichend Schutzplätze gibt«.
Das ist derzeit nicht der Fall. Aus der bundesweiten Frauenhaus-Statistik für das Jahr 2024 geht hervor, dass der Anteil von hilfesuchenden Frauen, die in der Nähe ihres Wohnorts Platz in einem Frauenhaus finden, seit Jahren kontinuierlich sinkt. 2013 konnten noch 54 Prozent der Betroffenen in der eigenen Kommune Schutz finden, 2023 waren es nur noch 36 Prozent. Hinzu kommt, dass mehr als ein Viertel der Betroffenen im vergangenen Jahr die Kosten des Aufenthalts entweder ganz oder anteilig selbst übernehmen mussten.
Schulungen für Polizei, Richterschaft und Staatsanwaltschaft
Terre des Femmes fordert von dem geplanten Gesetz außerdem Schulungen für Polizei, Richterschaft und Staatsanwaltschaft. Dort fehle es an »Fachwissen zu Partnerschaftsgewalt, Täterstrategien und Betroffenenverhalten«. Der Verein Frauenhauskoordinierung erwartet hinsichtlich der Täterarbeit, dass schon die Polizei direkt auf Täter zugehen und entsprechende Programme empfehlen soll.
Der Rechtsanspruch für Betroffene soll gemäß dem Entwurf erst ab 2030 gelten. Es würden statistisch gesehen also noch fast 800 Frauen umgebracht, bis der Rechtsanspruch auf Gewalthilfe bestünde – wenn denn das Gesetz beschlossen würde und wie geplant 2025 in Kraft träte. Dann hätten die Bundesländer fünf Jahre Zeit, um den Bedarf zu analysieren und den Ausbau ihres Angebots zu planen, denn sie sind gemeinsam mit den Kommunen für die Umsetzung zuständig.
Die Fallzahlen bei der häuslichen Gewalt zeigen, dass Gewalt gegen Frauen nach wie vor ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist, und die sich seit langem verschärfende Unterversorgung der Frauenhäuser zeigt, dass nicht ausreichend gegen dieses Übel vorgegangen wird. Die Berichterstattung einiger Medien über Partnerschaftsgewalt vermittelt den Eindruck, es handle sich um tragische Einzelfälle. Dabei schafft vielmehr die fortdauernde Entwertung der Frau ein gesellschaftliches Klima, in dem Gewalt gegen Frauen entsteht und gleichzeitig abgetan wird.
Abwertung eines Menschen qua Geschlecht
Bei einer Urteilsverkündung vergangene Woche in Essen sagte ein Richter über einen wegen Mordes an seiner Frau verurteilten Mann, dieser habe die »mittelalterliche Vorstellung« gehabt, dass seine Frau ihm gehöre. Die Verurteilung des Tatmotivs als »mittelalterlich« geschah sicher in bester Absicht. Doch verschleiern solche Aussagen den Umstand, dass der männliche Besitzanspruch an Frauen noch gegenwärtig ist, wenn auch meist in subtilerer Form.
Die Grundlage geschlechtsspezifischer Gewalt ist die Abwertung eines Menschen qua Geschlecht, der Frau qua Frausein. Partnerschaftsgewalt ist kein Ausbruch aus der gesellschaftlichen Ordnung, sondern die gewaltvolle Aus- und Weiterführung der ihr zugrundeliegenden Geschlechterhierarchie.
Im Diskussionsentwurf der Bundesregierung ist von »ungleichen strukturellen Machtverhältnissen« die Rede, die als Grund für die Gewalt gesehen werden. In der Tat führt Geschlechterungerechtigkeit dazu, dass Frauen in finanzieller und anderer Abhängigkeit gefangen bleiben. Das macht die Trennung von einem Gewalttäter oft schwer. Deswegen ist ein Recht auf Schutzunterkünfte so bitter nötig.
Allerdings erklärt ein Machtungleichgewicht nicht, weshalb Männer überhaupt zu Tätern werden. Dafür muss man sich anschauen, wie gesellschaftliche Vorstellungen mit der männlichen Subjektwerdung verstrickt sind.
»Kann ich dich nicht haben, kriegt dich keiner«, ist die altbekannte Drohung vieler Täter an ihre Opfer.
Das gesellschaftliche Ideal des autonomen männlichen Subjekts wird zwangsläufig an der Realität frustriert, weil Subjekte durch ihre soziale Umwelt stets auf andere bezogen sind. Einfacher gesagt: Menschen brauchen andere Menschen. Diese Dissonanz zwischen erlebter Abhängigkeit und Autonomiewunsch wird problematisch, wenn sie unreflektiert bleibt. Dann wird sie unbewusst abgewehrt und kann in Aggression münden, so der Sozialpsychologe Rolf Pohl.
Im Falle von Partnerschaftsgewalt projiziert der Täter seine Aggression auf die Frau, die sich dem Autonomieanspruch des Mannes schon dann widersetzt, wenn sie als eigenständig handelndes Subjekt auftritt. Deshalb sind Trennungssituationen für von Gewalt betroffene Frauen besonders gefährlich. Der Täter verliert hier seinen Kontrollanspruch über die Frau, wird in seiner imaginierten Autonomie gekränkt und muss seinen »Besitz« bestrafen oder vernichten, um die eigene Autonomieillusion wiederherzustellen. »Kann ich dich nicht haben, kriegt dich keiner«, ist dabei die altbekannte Drohung vieler Täter an ihre Opfer.
Gesellschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber Partnerschaftsgewalt
Selbst wenn das Gewalthilfegesetz doch noch kommen sollte: Eine gesetzliche Regelung allein reicht nicht aus. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die geschlechtsspezifische Gewalt erzeugen und verharmlosen, müssen verändert werden.
Der Grund für die schleppenden Reformbemühungen ist Schreiber zufolge die gesellschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber Partnerschaftsgewalt. Die zeige sich auch im Unwillen, die nötigen Finanzmittel für den Ausbau von Frauenhäusern zur Verfügung zu stellen. Ein weiteres Problem sei, »dass die Betroffenen selber das nicht laut genug einfordern«. Denn es sei immer noch »total schambesetzt«, Opfer häuslicher Gewalt geworden zu sein.