Der analoge Mann
Am Sonntagvormittag fahren Julia und ich mit dem Bus zum Südkreuz. Bereits beim Aussteigen treffen wir Bekannte, die auch auf dem Weg zum Treffpunkt sind. Einige Berliner Urban Sketchers haben dazu eingeladen, gemeinsam in der Ringbahn zu zeichnen. Auf dem Bahnsteig der S-Bahnlinie 41 warten bereits weitere Bekannte. Als wir etwas später einsteigen, sind wir eine Gruppe von etwa 30 Zeichnerinnen und Zeichnern. Es ist ein bisschen wie in dem Kinderspiel »Reise nach Jerusalem«: Alle setzen sich plötzlich hin und ich habe noch keinen Platz. Ah, da in der Ecke ist noch was frei! Umringt von den anderen arrangiere ich mich langsam mit meinem Blickwinkel. Er wird für rund zwei Stunden derselbe bleiben. Ich hole meinen Stift und mein Skizzenbuch aus der Tasche und fange an zu zeichnen.
»Was ist denn hier los?« fragt eine Frau, die eine halbe Stunde später einsteigt, fröhlich in unsere Runde.
Sie hat sich mitten zwischen uns gesetzt, als gerade ein Platz frei wurde. »Wir haben uns getroffen, um gemeinsam zu zeichnen«, klärt Julia sie auf. »Ach so, ich hatte gedacht, das wäre ein Karikaturenwettbewerb«, antwortet sie etwas zu laut. »Ich bin auf dem Weg zur Arbeit. In Neukölln steige ich aus. Bis dahin habt ihr Zeit.« Ich zeichne zwar gerade etwas anderes, nehme ihre Aufforderung aber sofort an. »Was arbeiten sie denn?« fragt Julia. »Ich arbeite in einer Demenz-WG. Ich betreue die Bewohner, putze, koche und räume auf«, sagt die Frau.
Ah, daher spricht sie eine Spur lauter als üblich. Sie ist es gewohnt, das zu tun, damit so viele Leute wie möglich mithören können. Eine der Inklusion förderliche Fähigkeit, die leider zu wenige Menschen besitzen. Sie unterhält jedenfalls mühelos unsere ganze Gruppe.
Die Frau wiederholt: »Nie wieder arbeite ich in Pflegeheimen! Furchtbar!«
Julia interviewt sie weiter: »Das ist sicherlich eine dankbare Aufgabe, oder?« – »Ich mache das sehr gern. Und ich weiß jeden Tag, was ich gemacht habe. Sinnkrisen habe ich nicht. Aber in einem Pflegeheim würde ich auch nie wieder arbeiten. Was ich da schon alles erlebt habe! Schrecklich!« – »Ich habe einen Freund, der als Rechtsanwalt darauf spezialisiert ist, Patienten und Menschen in Pflegeheimen zu vertreten, die von Krankenhäusern und Pflegeheimen über den Tisch gezogen werden«, erzählt Julia. Die Frau wiederholt: »Nie wieder arbeite ich in Pflegeheimen! Furchtbar!«
Meine kleine Skizze ist fertig. Ich zeige sie ihr. »Soll ich das sein? Ah, ja, jetzt erkenne ich mich. Dankeschön«, sagt die Frau. »Fotografieren Sie ruhig«, fordert Julia sie auf. »Nein danke«, antwortet sie. »Schreiben Sie nur Romina dazu.« »Wie Al Bano und Romina Power!« sagt Julia. »Ich bin Argentinierin, da ist der Name recht üblich«, antwortet sie.
Am S-Bahnhof Neukölln verabschiedet sich Romina. Wir zeichnen weiter. Insgesamt fahren wir zwei ganze Runden mit der Ringbahn. »Felicità! … Felicità!« erklingt es leise aus Julias Handy.