Kampf zweier Linien
Andrej Demidow ist zufrieden. Der russische Gewerkschafter, der mittlerweile in Frankreich lebt und dort Mitglied im französischen Gewerkschaftsverband CGT ist, war einer der Organisatoren des »Forums der linken Emigration«, das Anfang November in Köln abgehalten wurde. Circa 70 Personen, überwiegend aus Russland, aber auch aus der Ukraine und Belarus, folgten der Einladung des Bündnisses der postsowjetischen Linken (BPL) und diskutierten über den russischen Krieg gegen die Ukraine und die Möglichkeiten, aus dem Exil heraus mit Genossen in ihren Herkunftsländern zusammenzuarbeiten.
Das Treffen habe seine Ziele erreicht, sagt Demidow: »Wir haben eine Vernetzung für weitere Zusammenarbeit hergestellt und aktuelle Probleme der linken Bewegung diskutiert. Es wurden zwei Gruppen gebildet, eine zu theoretischen Fragen und eine zur gegenseitigen Unterstützung der linken Migranten.«
Bedingung für die Teilnahme war ein linkes Selbstverständnis, die Ablehnung des russischen Krieges und eine kompromisslose Haltung gegenüber Putins Regime. Die meisten reisten aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Polen oder Armenien an. Etwas ein Viertel der Teilnehmer stammt ursprünglich aus der Ukraine.
»Wir müssen uns im Klaren sein, was in Russland ansteht: eine bürgerliche Revolution«, sagte am ersten Tag des Treffens der Aktionskünstler und Kurator Anatolij Osmolowski.
Einige der anwesenden Emigranten waren in Russland durchaus bekannt, beispielsweise der Anwalt Jewgenij Stupin, der wegen seiner Antikriegsposition aus der Fraktion der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (KPRF) in der Moskauer Stadtduma ausgeschlossen wurde und anschließend auch sein Mandat verlor. Auch der Mathematiker Michail Lobanow nahm teil: Er hatte als bekennender Linkssozialist bei den Parlamentswahlen 2021 beinahe die Mehrheit in einem Wahlbezirk in der Hauptstadt errungen, wurde im vergangenen Jahr in Moskau verhaftet und lebt mittlerweile in der EU. Zu den via Internet zugeschalteten Teilnehmern gehörte Andrej Rudoj, dessen Youtube-Kanal »Westnik Buri« zu den populärsten linken Online-Medien in Russland zählt.
Die vom »Forum« beschlossene Resolution konstatiert lediglich, dass die Teilnehmer willens sind, zusammenzuarbeiten und ihre Debatten fortzuführen. Politisch einig sind sie sich nicht geworden, was auch kaum jemand zuvor erwartet hatte. Zu tief sind die Gräben, zu unterschiedlich die politischen Strömungen, aus denen die Teilnehmer kommen. »Wir müssen uns im Klaren sein, was in Russland ansteht: eine bürgerliche Revolution«, sagte am ersten Tag der Aktionskünstler und Kurator Anatolij Osmolowskij. Daraus folgt für ihn: »Wir müssen die liberale Bourgeoise dazu drängen, Putin zu stürzen und die Macht zu übernehmen.« Wenn man zu früh die sozialistische Revolution ausrufe, lande man doch wieder bei so etwas wie Stalinismus, so Osmolowskij weiter.
»Russländische Sozialisten für einen Frieden ohne Annexionen«
Dieser »menschewistischen« Analyse stellten die anderen die Positionen der Zimmerwalder Konferenz von 1915 entgegen, die die sozialistischen Parteien Europas aufrief, ihre Regierungen im Weltkrieg nicht zu unterstützen, und mehrheitlich einen »revolutionären Defätismus« vertrat. Am Ende gab es zwei Papiere, die die Fraktionierung widerspiegelten. Das eine trägt den Titel »Frieden von unten«. Darin wird der Krieg als Folge einer »regelbasierten Friedensordnung« der kapitalistischen Konkurrenz bezeichnet und ein sofortiger Waffenstillstand befürwortet. Vor Hoffnungen, die Regierungen würden diese Forderung erfüllen, wird jedoch ausdrücklich gewarnt – nur der Kampf gegen die Regierungen auf beiden Seiten der Front könne den Krieg stoppen.
Der Gegenentwurf trägt den Titel »Russländische Sozialisten für einen Frieden ohne Annexionen« und fordert uneingeschränkte Waffenlieferungen für die Ukraine, deren »nationaler Befreiungskampf« linke Solidarität verdiene. Nur der ukrainischen Bevölkerung obliege es, die Entscheidung zu treffen, ob gekämpft und verhandelt wird, alle anderen sollten die Ukrainer unterstützen.
Zu den Unterzeichnern gehört der Veteran der russischen Sozialdemokratie, Pawel Kudjukin, einige Anarchisten, Linkssozialisten und Trotzkisten. Als einzige Organisation schloss sich die Revolutionär-Kommunistisch-Internationale Tendenz (RCIT) an, eine trotzkistische Gruppe, deren führender Theoretiker der Österreicher Michael Pröbsting ist, der erst im Sommer zu einer Bewährungsstrafe wegen Hamas-Propaganda verurteilt worden war.
»Wir können uns gegenseitig helfen«
Während die einen den Vergleich mit 1914 ziehen, wird aus den Reihen trotzkistischer Gruppen, bei denen die Sektionen in Russland meist bei weitem proukrainischer eingestellt sind als ihre Schwesterorganisationen in westlichen Staaten, entgegnet, dass es doch richtig gewesen sei, beispielsweise 1935 die äthiopische Monarchie gegen Mussolinis Italien zu unterstützen. Die Ukraine könne nicht auf die Revolution warten, es gehe um das blanke Überleben.
Bei den Teilnehmern aus der Ukraine stößt das keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Die Gruppe Marxistische Plattform opponiert offen dagegen, viele verweisen auf die Brutalität der staatlichen Mobilisierungspolitik, Korruption, Zensur, schließlich darauf, dass die Regierung das Ziel verfolge, aus der Ukraine einen funktionierenden kapitalistischen Staat zu machen.
Aleksandr Woronkow, einer der Organisatoren des Kölner Treffens, geht davon aus, dass die Strömung, die nicht Partei für die Verteidigung der Ukraine ergreifen will, über bessere Kontakte zu den Linken in Russland verfüge und auch unter den aktiven Linken im Exil in der Mehrheit sei. Das Forum sei eben eine Diskussionsplattform und die Differenzen daher unvermeidlich. Auch Aleksej Sachnin, der vor dem Einmarsch von 2022 eines der führenden Mitglieder der »Linken Front« in Russland war und der Organisation wegen ihrer Unterstützung der »Spezialoperation« in der Ukraine den Rücken kehrte, ist sich sicher, dass die Kooperation trotz Differenzen weiterlaufen werde.
Auf die Frage, wie westliche Linke helfen könnten, antwortet Andrej Demidow: »Ich würde die Frage nicht so formulieren. Wir können uns gegenseitig helfen. Wir können den Linken hier helfen, eine adäquate Position zu formulieren, und die hiesigen Linken könnten uns bei der Verbreitung unserer Positionen unterstützen. Es gibt auch Bedarf nach Hilfe bei der Evakuierung von den Repressionen bedrohter Aktivisten aus Russland und an gemeinsamen theoretischen Diskussionen.«