21.11.2024
Flaschenpost vom Verleger – die Briefe von Siegfried Unseld lesen sich wie ein Kommentar über die gegenwärtige Lage bei Suhrkamp

Es gibt keinen Wein bei Suhrkamp

Eine Auswahl von »Hundert Briefen« des Verlegers Siegfried Unseld spiegelt die intellektuellen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik in den Jahren 1947 bis 2002. Angesichts des jüngsten Eigentümerwechsels des Suhrkamp-Verlags liest sich die Korrespondenz wie eine Flaschenpost.

Der Verleger Siegfried Unseld wäre am 28. September 100 Jahre alt geworden. Unter seiner Leitung in den Jahren von 1959 bis zu seinem Tod 2002 wurde das in Frankfurt am Main 1950 von Peter Suhrkamp gegründete Unternehmen zum wichtigsten deutschen Verlag der Nachkriegszeit und zu einer Institution. Oft ist gar von »Suhrkamp-Kultur« die Rede, seit der Philosoph Georg Steiner den Begriff 1973 in einer Besprechung von Theodor W. Adornos 20bändiger Werkausgabe verwendet hat.

Kaum einen Monat nach Unselds rundem Geburtstag gingen die bisher von der Siegfried-und-Ulla-Unseld-Familienstiftung und der Familie Ströher gehaltenen Verlagsanteile an den Unternehmer Dirk Möhrle über, der bisher 39 Prozent am Verlag gehalten hatte. Ulla Unseld-Berkéwicz, die Witwe Siegfried Unselds, verband ihren Rückzug aus der Suhrkamp AG ausdrücklich mit dem 100. Geburtstag des Verlegers. Es sei an der Zeit, die Verantwortung abzugeben.

Mit Möhrle, dem nunmehr alleinigen Eigentümer, könnte für das inzwischen in Berlin ansässige Verlagshaus ein neues Kapitel beginnen, das frei ist von den wohl lähmenden Konflikten und Verpflichtungen der Vergangenheit. Allerdings hat der neue Eigner, der sein Geld bisher mit Garten- und Baumärkten, einer Geschäftsfliegerflotte und Immobilien gemacht hat, nur wenig verlegerische Erfahrung vorzuweisen; er übernimmt die Leitung zudem in einer Zeit, in der auch renommierte Buchhäuser unter großen wirtschaftlichen Druck geraten sind.

Deutlich wird der Konflikt, den Unseld als wirtschaftlich erfolgreicher Verleger linker Autoren und Theoretiker, die Marktinteressen grundsätzlich kritisch gegenüberstanden, auszutragen hatte. 

Der zum Geburtstag Unselds veröffentlichte Band »Hundert Briefe. Mitteilungen eines Verlegers 1947–2002«, herausgegeben von Ulrike Anders und Jan Bürger, erscheint daher auch unabhängig vom ursprünglichen Anlass zum denkbar passendsten Zeitpunkt, erzählen die ausgewählten Briefe – unter anderem an Ingeborg Bachmann, Samuel Beckett, Ignatz Bubis, Henry Kissinger – doch die Geschichte des Hauses aus der Perspektive des prägenden Verlegers. Zugleich zeichnen sie ein aufschlussreiches Bild seiner verlegerischen und intellektuellen Haltung. Unseld äußert sich zum Putsch in Chile (in einem Brief an Max Frisch) ebenso wie zum Krieg in Algerien (Brief an Paul Celan) und er schreibt – bei allem Respekt für die Witwe Bertolt Brechts – entsetzt an Helene Weigel, als er erfährt, dass diese in einer öffentlichen Erklärung den Berliner Mauerbau »leidenschaftlich begrüßt«.

Deutlich wird auch der Konflikt, den Unseld als wirtschaftlich erfolgreicher Verleger linker Autoren und Theoretiker, die Marktinteressen grundsätzlich kritisch gegenüberstanden, auszutragen hatte. Max Frisch etwa äußert 1966 brieflich seine Sorge, der Verlag könne einem kapitalistischen Expansionszwang unterliegen: »Es wäre nur eine eigengesetzliche Entwicklung wie etwa bei der (Schweizerischen Supermarktkette; Anm. d. Red.) Migros von Duttweiler, der mit Lebensmitteln angefangen und marktbeherrschend wurde, dann sich erweiterte auf Migros-Benzin, Migros-Sprachkurse, Migros-Reisen, Migros-Bibliothek. Sie lachen? Der Name SUHRKAMP, so wie er jetzt eingeführt ist, wäre durchaus eine Qualitätsbezeichnung auch im Weinhandel. (…) Kommen Sie sich nicht zuweilen wie ein Industrieller vor?«

Bedürfnisse einer »demokratischen Zeit« nach Lektüre und Bildung

Frischs Befürchtungen haben sich im Fall des Suhrkamp-Verlags nicht bestätigt. Unseld weist Frischs These von der Eigengesetzlichkeit mit dem Hinweis zurück, er erzeuge ja nicht auf Expansion zielend künstliche Nachfrage, sondern befriedige die Bedürfnisse einer »demokratischen Zeit« nach Lektüre und Bildung. In einem Brief an Martin Walser gesteht er 1973 allerdings ein, die für den Verlag Verantwortlichen seien »jetzt unversehens alle zu Funktionären geworden«: »Es ist also kein kleines Unternehmen mehr, wir müssen es betriebswirtschaftlich ausrichten und als Apparat in Ordnung bringen, in Funktion halten.« Doch bleibt Unselds Ziel dabei immer, anspruchsvolle Bücher zu verlegen und die Autoren intensiv zu betreuen. So liege es, schreibt er Hans Ma­gnus Enzensberger, nicht zuletzt an deren finanziellen Ansprüchen, dass sich »ein Verlag wie Suhrkamp (…) seine frühere Finanzschwäche nicht mehr leisten« könne.

Unselds Hinweis auf die »demokratische Zeit« deutet an, dass es ihm um mehr ging als die Sicherung der Existenz von Verlag und Autoren. Beispielsweise, wie er 1961 an Fritz Bauer schreibt, um die »vielzitierte Bewältigung unserer Vergangenheit«, die »vielleicht nur durch eine unterschwellige Wirkung, wie sie literarischen Büchern auf die Dauer doch eigen ist«, erreicht werden könne.

Welch große Bedeutung Unseld der Stabilisierung eines demokratischen Deutschland beimaß, zeigt sich auch in seinen politischen Positionierungen gegenüber den teils rebellierenden Lektoren und Autoren. Deutlich wird das vor allem an der Auseinandersetzung mit dem fünf Jahre jüngeren Enzensberger. An diesen schreibt Unseld 1967 über Rudi Dutschke: »Was mich stört, was mich bedenklich macht, ja, was mich zögern läßt, mit ihm zu sympathisieren, ist das Fanatische seines Gesichtsausdruckes, das Fanatische seiner Gesten, das Fanatische dieser SDS-Kameraderie, die mich – verzeih – an eine Zeit erinnert, die ich (und leider nicht Du) wach erlebt habe (…). Diese Intoleranz will ich nicht mehr, und ich glaube denen nicht, die vorgeben, sie nur für eine Übergangszeit anzuwenden.«

Partei für die parlamentarische Demokratie ergriffen

Klar ist Unselds Haltung auch in der Auseinandersetzung um die politische Ausrichtung der unter anderem von Enzensberger verantworteten Zeitschrift Kursbuch. Gegen die damaligen revolutionären Träume, die für ihn Alpträume sind, ergreift er Partei für die parlamentarische Demokratie: »Ich sehe in der Humanisierung des Daseins die Aufgabe eines Sozialismus, der freilich neu zu denken und zu prägen wäre. Wenn Kursbuch dies leisten könnte und dies überhaupt intendierte, wäre ich nur glücklich und trüge alle Konsequenzen. Aber einer alternativlosen Abschaffung unseres heutigen parlamentarischen Systems Wort und Kraft zu geben, bin ich nicht fähig. (…) Für eine Revolution, welcher Art auch immer, gibt es bei uns keine historischen, keine politischen, keine soziologischen, keine ideologischen Voraussetzungen. Jeder Versuch wäre nicht nur zum Scheitern, sondern, viel schlimmer, zur Lächerlichkeit verurteilt. Es wäre Sektierertum. Und genau dafür soll es im Suhrkamp Verlag keinen Platz geben.«

Der Band versammelt eine kommentierte Auswahl aus über 50.000 erhaltenen Korrespondenzen des leidenschaftlichen Briefeschreibers. Anhand des anachronistisch gewordenen Mediums Brief zeigt sich recht eindrucksvoll, wie sehr die verlegerische Arbeit Unselds auch das Produkt einer spezifischen historischen Situation gewesen ist. Aber gerade in einer Zeit, in der die Literatur mit Social Media und anderen digitalen Angeboten um intellektuellen Einfluss konkurrieren muss, sind Verlage, die mehr sein wollen als eine »Agentur für Literaturverwertung« (Unseld an Frisch), unentbehrlich.


Buchcover

Siegfried Unseld: Hundert Briefe. Mitteilungen eines Verlegers 1947–2002. Herausgegeben von Ulrike Anders und Jan Bürger. Suhrkamp, Berlin 2024, 468 Seiten, 26 Euro