Mamma Mia in Mexiko
Das Leben in Mexiko ist von Ungleichheit, Sexismus und Gewalt geprägt. Diese gesellschaftliche Realität filmisch einzufangen, ist ein schwieriges Unterfangen. Alejandro González Iñárritu gelang dies ansatzweise mit »Amores Perros«. Das Drama feierte 2000 auf den Filmfestspielen in Cannes Premiere und zeigt in drei Kapiteln Ausschnitte aus dem harten Alltag der Menschen in Mexiko.
Bei den 77. Filmfestspielen in Cannes gab es stehenden Applaus. Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez und Adriana Paz wurden als beste Darstellerinnen geehrt, während Audiard für seine Musical-Crime-Komödie den großen Preis der Jury erhielt.
Nun hat sich Jacques Audiard in seinem zehnten Spielfilm an diese Aufgabe gewagt. Der Plot verspricht eine wilde Mischung aus Telenovela und Trash: Es geht um den mächtigen Drogenboss Juan »Manitas« del Monte. Dass die Figur von der argentinischen Trans-Schauspielerin Karla Sofía Gascón gespielt wird, ist ein Hinweis auf den entscheidenden Dreh der Handlung. Manitas, der mit seiner Ehefrau Jessi (Selena Gomez) zwei kleine Kinder hat, ist des Drogengeschäfts überdrüssig und überlegt, wie er aussteigen kann. Aufmerksam verfolgt er einen Mordprozess, in dem ein offensichtlich schuldiger Angeklagter mit Hilfe seiner klugen Anwältin Rita Moro Castro (Zoe Saldaña) freikommt.
Manitas erkennt die besondere Gewieftheit der Anwältin, die noch immer ein prekäres Dasein in der unteren mexikanischen Mittelschicht fristet. Die Kanzlei, in der sie zu für sie ungünstigen Konditionen arbeitet, ist auf die Verteidigung schäbigster Verbrecher in schmutzigen Gerichtsprozessen spezialisiert. Dass sie sich für die unverdiente Freiheit steinreicher Krimineller aufreibt, die immer mehr Reichtum anhäufen, während sie sich für ihr Auskommen kaputt macht, lässt sie immer unglücklicher werden.
Doch dann tut sich ihre große Chance auf – wenn es auch zunächst nicht so erscheint: An einem Kiosk wird Rita gekidnappt und mit verbundenen Augen zu einem geheimen Ort gefahren. Dort macht ihr kein Geringerer als Drogenkartellboss Manitas ein Angebot, das sie nur schwer ablehnen kann: ein einmaliger Job für eine unvorstellbar hohe Summe, mit der sie sich anschließend zur Ruhe setzen kann. Sein Plan ist allerdings keiner, den man von einem machistischen Drogenboss erwarten würde: Rita soll ihm zu einer Geschlechtsumwandlung verhelfen. Es ist Manitas’ größter Wunsch, als Frau zu leben, was auch noch den Vorteil hätte, dass er – oder vielmehr sie – als Emilia Pérez nochmal ganz vorne anfangen kann.
Intensives Spiel der Hauptdarsteller:innen
Diese Handlung in ein Musical zu verpacken, ist ein gewagtes Experiment; umso erstaunlicher ist, dass es so gut funktioniert. Bei den 77. Filmfestspielen in Cannes gab es stehenden Applaus. Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez und Adriana Paz wurden als beste Darstellerinnen geehrt, während Audiard für seine Musical-Crime-Komödie den großen Preis der Jury erhielt.
Diese Wirkung verdankt »Emilia Pérez« zweifellos dem intensiven Spiel seiner Hauptdarsteller:innen. Zugleich ist Audiard eine faszinierende Mischung aus verschiedenen Filmgenres gelungen. Denn filmisch tanzt dieser Film ähnlich aus der Reihe wie »Titane« (2021) von Julia Ducournau.
So überschlug sich denn auch die internationale Presse mit Lob: »Ein Hauch von Almodóvar«, schwärmte The Guardian, als »eine Art Popoper mit Narco-Vibe« beschrieb es das US-amerikanische Filmkritikportal Rotten Tomatoes. Da ist was dran!
Grundzüge einer Oper in vier Akten
Die Dramaturgie könnte die einer klassischen mexikanischen Telenovela sein, nur dass Manitas nicht das arme Mädchen aus den Favelas ist, das es durch die Heirat mit dem Märchenprinzen aus der Oberschicht zu Reichtum und Ruhm bringt. Das Drehbuch folgt den Grundzügen einer Oper in vier Akten. Die Genres werden gleichsam durch einen Mixer gequirlt, bisweilen schwindelt es einen bei der überdrehten Inszenierung.
Der französische Regisseur nimmt zudem deutliche Anleihen bei der kühlen Ästhetik des Science-Fiction-Films, etwa wenn Rita anfangs durch die Welt jettet und in das kommerzielle Universum der plastischen Chirurgie und der Kliniken eintaucht, in denen Geschlechtsumwandlungen vorgenommen werden. Hier filmt Audiard von oben auf die heilsversprechenden blinkenden Kliniken, in denen in aseptisches Weiß gehüllt Patient:innen liegend auf ihre Eingriffe warten.
Dabei streift Regisseur Audiard das Business der plastischen Chirurgie und der geschlechtsangleichenden Operationen nur oberflächlich. Die realen Probleme, denen sich Trans-Menschen bei den operativen und hormonellen Behandlungen ausgesetzt sehen, thematisiert der Film nicht.
Als in Gestalt des israelischen Chirurgen Dr. Wasserman (Mark Ivanir) ein ebenso geschickter wie kluger Arzt gefunden wird, scheint das Märchen für Manitas wahr zu werden. Während Wasserman von rechts nach links Hebräisch in sein Notizbuch schreibt, bereitet er Manitas singend auf das vor, was jetzt auf ihn zukommt: »Ich kann dein Geschlecht ändern, aber es ist das Denken in den Köpfen der Leute und die Gesellschaft, die sich ändern müssen … !«
OP in einer Klinik in Tel Aviv
Mit schmerzverzerrtem Gesicht erwacht Emilia Pérez nach überstandener OP in einer Klinik in Tel Aviv, um das alte Leben hinter sich zu lassen und als Frau glücklich zu werden. Dabei wirken die Szenen, in denen sie mit den Personen aus ihrer engen Umgebung konfrontiert ist, bisweilen bizarr, etwa wenn Emilia mit ihren Kindern kuschelt und diese meinen, sie rieche wie ihr Papa, oder wenn sie vor Wut und Eifersucht tobend mit Ex-Frau Jessi herumbrüllt, sich ihre Stimme dabei überschlägt und die verzerrte männliche Stimme aus ihr herausbricht wie aus einem Monster.
Dennoch schlägt der Film in keinem Augenblick ins Lächerlich-Groteske um. Denn die drei Hauptdarsteller:innen glänzen in ihren Rollen, vor allem Karla Sofía Gascón überzeugt in der Hauptrolle der Emilia Pérez durch eine unvergleichlich starke Leinwandpräsenz. Aber auch Gomez in der Rolle der Jessi, als oberflächliche Latino-Girly-Gattin des Drogenbarons, die sich vollgekokst nur amüsieren will, ist großartig, vor allem wenn sie tanzt.
Im letzten Drittel nimmt der Film noch unerwartet Fahrt auf, als ausgerechnet Emilia Pérez eine sinnstiftende Tätigkeit in der Suche nach den und dem Einsatz für die desaparecidos (Verschwundenen) findet und in dieser Rolle aufgeht. Audiard trägt auch hier dick auf: Eine gemeinnützige Stiftung muss her und der einst skrupellose Drogenboss wandelt sich in seiner neuen Identität als Frau gleich noch zum guten Menschen, dem am karitativen Einsatz für die Entrechteten liegt. In einer an die artifizielle Ästhetik der »Matrix«-Reihe erinnerndem Filmeinstellung werden die Köpfe zahlreicher Vermisster zu einem Puzzle montiert.
Der Kampf der guten Frauen gegen die machistische, gewalttätige Männerwelt überhöht das vermeintlich Weibliche auf geradezu penetrante Weise.
Wenn sich das Duo aus Emilia und ihrer Anwältin Rita dem Kampf für die Familien der desaparecidos widmet, hat dies etwas von Wunscherfüllungskino, ganz wie in den letzten Einstellungen von Tarantinos »Inglourious Basterds«. Indem er den Bogen gnadenlos überspannt, schafft Audiard eine ganze eigene Erzählweise. Sehr stark ist auch die Inszenierung einer Gala-Veranstaltung, auf der Emilia und Rita tanzen und den anwesenden Politiker:innen – potentiellen Spendern – förmlich ins Gesicht schreien, dass sich die gesellschaftlichen Probleme in Mexiko auch aufgrund ihrer Korruption nicht so leicht lösen lassen. Die Refrains der furiosen Lieder, wie »Habla, esta gente habla«, sind eingängig und bleiben noch lange hängen.
»Emilia Pérez« ist ein ironisches Spiel mit Verfremdungen und Brüchen: Die verschiedenen Filmgenres gehen hier so mühelos ineinander über, wie die Geschlechtsidentitäten spielerisch gesprengt werden. Wer sich auf den Kitsch und die Musical-Einlagen einlässt und außerdem noch Fan von Telenovelas ist, wird »Emilia Pérez« als queere Hymne mögen.
Dass das Musical-Drama dem Publikum ein Gefühl der Erhabenheit bescheren will, wenn der Film die schier grenzenlose Frauensolidarität im mutigen Kampf gegen das Verbrechen feiert, ist zugleich seine Schwäche. Der Kampf der guten Frauen gegen die machistische, gewalttätige Männerwelt überhöht das vermeintlich Weibliche auf geradezu penetrante Weise. Ach, wenn die Welt doch so einfach wäre!
Emilia Pérez (F 2024). Buch und Regie: Jacques Audiard. Darsteller: Selena Gomez, Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón. Filmstart: 21. November