Im Zweifel gegen Israel
Cambridge. Am Donnerstag vergangener Woche erließ der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, dessen ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant sowie gegen einen der Drahtzieher der Massaker vom 7. Oktober, den Hamas-Anführer Mohammed Deif. Israels Militär hatte zwar bereits im August bekanntgegeben, Deif bei einem Angriff im Süden des Gaza-Streifens im Juli getötet zu haben. Wie der IStGH in einer Pressemitteilung verlautbaren ließ, könne der Tod Deifs aber nicht eindeutig bestätigt werden, weshalb auch gegen ihn Haftbefehl erlassen wurde.
Bereits im Mai hatte der Chefankläger des internationalen Strafgerichts, der Brite Karim Khan, die Haftbefehle beantragt. Sie stehen im Zusammenhang mit dem seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 andauernden Krieg zwischen der palästinensischen Terrororganisation und Israel. Die Haftbefehle sind aus Gründen des Zeugenschutzes, und um die Ermittlung nicht zu behindern, eigentlich als »geheim« klassifiziert.
Die Bundesregierung hat sich bislang nicht klar dazu geäußert, ob sie Netanyahu und Gallant tatsächlich verhaften lassen würde, sollten sie nach Deutschland kommen.
Mit der Begründung, dass ein »ähnliches Verhalten wie das im Haftbefehl angesprochene offenbar andauert«, veröffentlichte der IStGH hierzu Pressemitteilungen. Dort heißt es, Deif werde der »Verbrechen gegen die Menschheit, des Mordes, der Ausrottung, Folter, Vergewaltigung und anderer Formen sexueller Gewalt« sowie verschiedener Kriegsverbrechen, darunter Geiselnahme, bezichtigt.
Auch Netanyahu und Gallant werden Verbrechen gegen die Menschheit vorgeworfen, darunter »Mord und Verfolgung und weitere unmenschliche Handlungen«. Ihnen wird außerdem vorgeworfen, für Kriegsverbrechen wie das »Aushungern von Menschen als Methode der Kriegführung« und für gezielte Angriffe auf Zivilisten im Gaza-Streifen verantwortlich zu sein.
Absichtliches Aushungern bleibt bloße Behauptung
Diskussionen darüber, ob und wie ausreichende humanitäre Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen kommen, dauern seit Beginn des Kriegs an. Dass Israel aber absichtlich die Bewohner des Palästinensergebiets aushungern würde, wie einige internationale Hilfsorganisationen und UN-Beamte immer wieder kritisieren, bleibt derweil bloße Behauptung, gegen die sich israelische Regierungsstellen entschieden wehren. Die USA hatten zuletzt Druck gemacht, die durchschnittliche Anzahl von LKW, die lebensnotwendige Hilfsgüter bringen, von etwa 100 pro Tag seit Kriegsbeginn auf 350 zu erhöhen.
Abgewickelt wird die Einfuhr von Hilfsgütern nach Gaza von der Koordinierungsstelle für Aktivitäten der israelischen Regierung in den palästinensischen Gebieten (Cogat). Deren Sprecher, Shimon Friedman, sagte in einem CNN-Interview vor zwei Wochen, Cogat habe die Voraussetzung dafür geschaffen, den Umfang der Hilfslieferung zu erhöhen, indem ein zusätzlicher Grenzübergang nach Gaza eröffnet worden sei. Allerdings könnte ein Teil der Hilfsgüter, die sich bereits in Gaza befänden, nachdem sie die israelischen Sicherheitskontrollen durchlaufen hätten, nicht verteilt werden, weil die Hilfsorganisation nicht ausreichend viele Transportfahrzeuge einsetzen würden.
Nun seien vor allem internationale Organisationen gefragt, damit mehr humanitäre Hilfe im Gaza-Streifen ankommt, so Friedman. Die Lage ist kompliziert, strikte, sicherheitsbedingte Vorgaben und für ein Kriegsgebiet typische praktische Probleme limitieren die Hilfen. Es gibt gleichzeitig Berichte, dass die Hamas gestohlene Hilfsgüter zu ihrer Finanzierung veräußert. Auf israelischer Seite gingen Armee und Polizei gegen Sympathisanten radikaler Siedler vor, die Hilfskonvois blockierten und angriffen.
Angebliche Angriffe auf Zivilisten
Strittig ist auch der Vorwurf des IStGH gegen Netanyahu und Gallant, sie hätten gezielte Angriffe auf Zivilisten angeordnet. In der Pressemitteilung des IStGH heißt es, dass vom Chefankläger Khan hierfür nur Informationen zu zwei Vorfällen vorgelegt wurden, die tatsächlich für einen intendierten und direkten Angriff auf Zivilisten sprechen. Nähere Angaben dazu werden nicht gemacht. Angriffe, die im Verdacht stehen, das humanitäre Völkerrecht zu verletzen, werden durch das israelische Militär selbst geahndet. Ein unabhängiges Untersuchungsgremium prüft derzeit 16 Fälle.
Tätig werden darf das IStGH eigentlich nur, wenn es keine nationale Gerichtsbarkeit gibt, die solche Fälle verfolgt. Auch wenn Israel die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen vor Angriffen warnt und Schutzzonen einrichtet, kommt es aufgrund des Umstandes, dass die Hamas die zivile Infrastruktur als Schutzschild benutzt, immer wieder zu einer hohen Anzahl an zivilen Opfern. Der israelische Kriegsreporter und Militärexperte Seth J. Frantzman sagte der Jungle World im Interview, dass dennoch »im historischen Vergleich zu anderen Kriegen der Menschheitsgeschichte bei den Kämpfen in Gaza verhältnismäßig wenig Blut vergossen wird«.
Die britische Juraprofessorin und Expertin für internationales Recht, Rosa Freedman, stellte vergangene Woche gegenüber CNN klar, dass es sich um Haftbefehle und nicht um Verurteilungen handele. Diese seien vielmehr erlassen worden, um die Beschuldigten zur Gerichtsverhandlung vorzuladen, bei der die Wahrhaftigkeit der gegen sie erhobenen Vorwürfe geprüft werden soll. Es sei nicht klar, ob es genügend Beweise gebe, um die israelischen Politiker schuldig zu sprechen.
Trump-Regierung erwägt Sanktionen gegen Chefankläger und Richter des IStGH
Der scheidende US-Präsident Joe Biden verurteilte die Haftbefehle gegen Netanyahu und Gallant als »empörend«. Insbesondere kritisierte er, dass die beiden israelischen Politiker durch die Anordnung des Strafgerichts mit dem Hamas-Terroristen Deif auf eine Stufe gestellt würden. »Es gibt keine Vergleichbarkeit zwischen Israel und der Hamas«, heißt es in einer Stellungnahme des Weißen Hauses.
Mike Waltz, der designierte Sicherheitsberater des zukünftigen US-Präsidenten Donald Trump, schrieb nach Bekanntwerden der Haftbefehle auf X: »Der IStGH hat keine Glaubwürdigkeit. Israel hat seine Einwohner und seine Grenzen rechtmäßig gegen völkermörderische Terroristen verteidigt.« Am Freitag vergangener Woche berichteten britische und israelische Medien, dass die designierte Trump-Regierung erwäge, Sanktionen gegen Chefankläger Karim Khan und die Richter des IStGH zu verhängen.
Anders als Deutschland gehören die USA nicht zu den 124 Mitgliedsstaaten des IStGH, die nun dazu angehalten sind, Netanyahu und Gallant festzunehmen, sobald diese sich in deren Staatsgebiet aufhalten sollten. Die Bundesregierung hat sich bislang nicht klar dazu geäußert, ob sie die israelischen Politiker tatsächlich verhaften würde, sollten sie nach Deutschland kommen. In einer Mitteilung des Regierungssprechers heißt es lediglich, man habe den Beschluss des Gerichts zur Kenntnis genommen und prüfe das weitere Vorgehen. Österreichs Bundesminister für Europäische und Internationale Angelegenheiten, Alexander Schallenberg (ÖVP), kritisierte den Haftbefehl in einer Mitteilung seines Ministeriums als »unverständlich und nicht nachvollziehbar«. Dort heißt es weiter: »Es wirkt abstrus, eine Äquivalenz zwischen Mitgliedern einer demokratisch gewählten Regierung und dem Anführer einer Terrororganisation herzustellen.«
»Belohnung für Terrorismus«
Zu den erklärten Befürwortern der IStGH-Haftbefehle gegen Netanyahu und Gallant gehören neben der Palästinensischen Autonomiebehörde auch Irland und Südafrika, das Israel im Dezember 2023 vor dem ebenfalls in Den Haag ansässigen, vom IStGH unabhängigen Internationalen Gerichtshof wegen Verstoßes gegen die Völkermordkonvention verklagte. In einer in internationalen Medien zitierten Mitteilung der Palästinensischen Autonomiebehörde heißt es: »Die Entscheidung des IStGH repräsentiert Hoffnung und Vertrauen in internationales Recht und seine Institutionen.« Die südafrikanische Regierung sieht darin einen wichtigen Schritt und der irische Ministerpräsident Simon Harris fordert dazu auf, den Internationalen Strafgerichtshof zu unterstützen.
In Israel stieß die Entscheidung des IStGH über die politischen Lager hinweg auf heftige Kritik. Präsident Isaac Herzog nannte sie in einer Stellungnahme auf X »absurd« und das Ergebnis »unaufrichtiger Beweggründe«, die das internationale Recht zu einer Farce machten. In einer Videobotschaft des israelischen Ministerpräsidenten heißt es: »Der Internationale Gerichtshof in Den Haag, der gegründet wurde, um die Menschheit zu schützen, wurde heute zum Feind der Menschheit.« Das Erlassen der Haftbefehle gegen ihn und den ehemaligen Verteidigungsminister Gallant sei ein »moralischer Bankrott« und untergrabe »das Recht demokratischer Staaten, sich gegen mörderischen Terrorismus zu verteidigen«.
Gallant schrieb auf X, die Entscheidung des Haager Tribunals schaffe »einen gefährlichen Präzedenzfall für den Kampf von Demokratien gegen Terrorismus weltweit«. Auch Oppositionsführer Yair Lapid von der liberal-zentristischen Partei Yesh Atid verurteilte die Entscheidung des Strafgerichts: »Die Haftbefehle sind eine Belohnung für den Terrorismus.« Und Yair Golan von der sozialdemokratischen Partei Avoda nannte den Gerichtshof »schändlich«.