28.11.2024
Die russische Reaktion auf den Einsatz weitreichender Waffen durch die Ukraine

Putins geheimnisvolle Rakete

Auf den Einsatz weitreichender Waffen durch die Ukraine reagierte Russland mit einem Angriff, bei dem eine angeblich neuartige Rakete verwendet wurde. Dies sollte vor allem die russischen Drohungen ­untermauern, den Krieg auszuweiten.

Lange hatten die USA gezögert, vorige Woche war es schließlich so weit. Der scheidende US-Präsident Joe Biden erteilte seine Erlaubnis für den Einsatz von Raketen mit größerer Reichweite gegen Ziele im Inneren Russlands. Auch Großbritannien und Frankreich haben offenbar Abstand von ihrer bisherigen Linie genommen, wonach ihre an die Ukraine gelieferten Waffensysteme nur zur Verteidigung auf ukrainischem Territorium zur Anwendung kommen dürfen.

Doch weder kam dieser Schritt für die russische Führung völlig unerwartet, noch dürfte er die militärischen Defizite der Ukraine kompensieren, die sich unter anderem aus der anfänglichen Zurückhaltung ihrer westlichen Partnerstaaten und fortbestehenden Schwierigkeiten ergeben, zugesagte Waffen auch tatsächlich zu liefern.

Wladimir Putin sagte, Russland behalte sich vor, militärische Objekte in Ländern anzugreifen, die erlauben, ihre Waffen gegen Russland einzusetzen.

In der Nacht auf den 19. November feuerten die ukrainischen Streitkräfte erstmals sechs US-amerikanische ATACMS-Raketen auf die Oblast Brjansk ab; das Gebiet liegt auf halbem Weg zwischen Kiew und Moskau. Das russische Verteidigungsministerium meldete ­daraufhin, dass fünf von ihnen abgewehrt werden konnten. Trümmerteile einer Rakete hätten einen Brand in einem Militärobjekt verursacht, Personen- oder nennenswerte Sachschäden habe es keine gegeben. Am Tag darauf schlugen Überreste von britischen Marschflugkörpern des Typs Storm Shadow in der Region Kursk ein, wo sie mutmaßlich eine Stellung des Militärkommandos trafen. Dieses Mal gab es Tote und Verletzte. Anfang dieser Woche folgten weitere Raketeneinsätze.

Russland reagierte »spiegelbildlich«, wie es im offiziellen Jargon heißt. Am Donnerstag vergangener Woche attackierten die Streitkräfte Produktionsstätten des aus Sowjetzeiten stammenden riesigen Rüstungsbetriebs Juschmasch in der ukrainischen Stadt Dnipro mit einer neuartigen ballistischen Rakete, die den Namen »Oreschnik« (Haselnussstrauch) trägt.

Regelrechte Wunderwaffe?

Wladimir Putin hatte gesagt, der Krieg in der Ukraine habe durch den jüngsten Einsatz westlicher Raketen gegen Russland eine globale Dimension angenommen und das Land behalte sich vor, militärische Objekte in Ländern anzugreifen, die erlauben, ihre Waffen gegen Russland einzusetzen. Glaubt man den Worten des russischen Präsidenten, handelt es sich bei der Oreschnik-Rakete um eine regelrechte Wunderwaffe, mit der sich derzeit keine anderen Waffensysteme messen können.

Von einem Testbeschuss hatte Putin gesprochen und sich zufrieden mit dem Ergebnis gezeigt. Mit Hyperschallgeschwindigkeit fliege die Rakete, sie sei durch Abwehrsysteme nicht zu stoppen und könne im Bedarfsfall mit Atomsprengköpfen ausgestattet werden. Besonders betonte er, dass es sich um eine völlig neue Entwicklung handele, die bald in Serie produziert werde.

Aber schon jetzt seien Vorräte vorhanden, was impliziert, dass jederzeit ein weiterer Abschuss erfolgen könne. Der kremlnahe Telegram-Kanal Readovka rechnete vor, dass eine Oreschnik-Rakete von Kaliningrad aus London in knapp sieben Minuten erreiche, Berlin sogar in nur zwei Minuten und 35 Sekunden.

Keine signifikante Erhöhung des Bedrohungspotentials

Da bislang keine Informationen über diesen Raketentypus vorlagen, stellten unabhängige russische und ausländische Militärsachverständige Vermutungen über die Fähigkeiten der Waffe an. In einem Punkt sind sich alle einig – um eine innovative Neuentwicklung handelt es nicht. Der russisch-israelische Militäranalytiker Sergej Auslender beispielsweise spricht von Veränderungen einer Interkontinentalrakete vom Typ Topol. Dabei hebt er deren geringe Zielgenauigkeit hervor, als wesentlich effektiver hätten sich in der Ukraine bereits erprobte Modelle mit geringerer Reichweite erwiesen.

Maxim Starchak, Experte für Russlands Nuklearpolitik an der Queen‘s University in Kanada, verweist auf Einschätzungen des US-Verteidigungsministeriums, wonach die Oreschnik-Rakete eine Modifizierung eines nie in Serie gegangenen Modells aus den zehner Jahren darstelle. Weil bislang jedoch zu wenige Angaben vorliegen und auch die russische Seite über zu wenige in der Praxis erworbene Daten verfüge, äußerte sich Starchak in einem Interview für das russische Oppositionsmedium Meduza zurückhaltend hinsichtlich der tatsächlichen Eigenschaften der Rakete. Weil gegen die Ukraine bereits andere Raketen zum Einsatz kamen, die mit Atomwaffen bestückt werden können, sieht er keine signifikante Erhöhung des Bedrohungspotentials.

Russische Gebietsgewinne

Doch genau das scheint Putins Absicht zu sein – zu drohen. Zwei Wochen lang hatte sich der russische Präsident aus der Öffentlichkeit ferngehalten. Nun meldete er sich zurück in einer Rolle, die er sich selber auf den Leib geschrieben hat: als Kriegsfürst, der die Ukraine als Faustpfand benutzt, um westlichen Demokratien seine Macht vorzuführen. Während Russland die Infrastruktur der Ukraine nach wie vor systematisch zerstört, kann Putin immer noch durchblicken lassen, dass er noch nicht zum äußersten Mittel greift.

Fakt ist, dass die russischen Streitkräfte Gebietsgewinne verzeichnen können. Mit Verweis auf einen hochrangigen Angehörigen des ukrainischen Generalstabs berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass die Ukraine mittlerweile 40 Prozent des im August in der Kursker Oblast besetzten russischen Territoriums wieder an Russland verloren habe.