05.12.2024
Der Waffenstillstand zwischen Israel und der Hizbollah ist fragil

Nur eine Atempause

Der Waffenstillstand zwischen Israel und der Hizbollah ist fragil. Die schiitische Terrororganisation ist derzeit zwar geschwächt, doch ist fraglich, ob ihre Rückkehr in den Südlibanon verhindert werden kann.

Die schmale und kurvenreiche Straße entlang der Blauen Linie, der im Jahr 2000 von der Uno festgelegten Grenze zwischen Israel und dem Libanon, ist mit Schlaglöchern und kleinen Kratern übersät. Die Autos kommen nur langsam voran. Hinter Sträuchern erscheinen Schutzwälle aus Betonplatten, die von orangefarbenem Schlamm bedeckt sind, der von den Ketten der Panzer und den Rädern schwerer Fahrzeuge verspritzt worden war, die in den vergangenen 14 Monaten während des Kriegs diesen Weg auf und ab fuhren. Doch seit dem 27. November schweigen die Waffen. In der Region herrschte eine seltene Ruhe, es wurde kein Artilleriebeschuss aus dem Südlibanon gemeldet.

Der von US-Präsident Joe Biden vermittelte und von beiden Seiten akzeptierte Waffenstillstand sieht einen Rückzug der schiitisch-islamistischen Terrorarmee Hizbollah auf das Nordufer des Flusses Litani vor, etwa 30 Kilometer entfernt von der israelischen Grenze. Die Streitkräfte Israels (IDF) haben 60 Tage Zeit, die südlibanesischen Gebiete zu räumen. Die Kontrolle soll schrittweise an die libanesische Armee übergeben werden, mit Unterstützung der UN-Truppe Unifil und unter Aufsicht US-amerikanischer und französischer Offiziere.

»Damit die Menschen in Nordisrael wieder ruhig leben können, müsste ein verstärktes Truppenkontingent der IDF die Grenze schützen.« Tal Beeri, Forschungsdirektor am Alma Center

Nicht alle Israelis sind mit der Vereinbarung zufrieden. »Es ist eher eine Kapitulationsvereinbarung als ein Waffenstillstand«, klagt Sivan Graziani aus dem Kibbuz Misgav Am in Obergaliläa unweit der libanesischen Grenze im Gespräch mit der Jungle World. Die 41jährige Gymnasiallehrerin wurde gleich zu Beginn des Waffengangs mit ihrer Familie und den meisten Bewohnern des Kibbuz evakuiert, kehrte aber Anfang des Jahres nach Hause zurück. »Die IDF haben ihre Arbeit nicht beendet. Sie haben bei 70 Prozent aufgehört, was bedeutet, dass sich die Schiitenmiliz mit der logistischen und finanziellen Hilfe des Iran wieder neu aufstellen wird. In einigen Jahren gibt es eine Fortsetzung des Kriegs.«

Einen Tag nach dem Überfall der palästinensische Terrororganisation Hamas auf Südisrael am 7. Oktober eröffnete die Hizbollah mit Raketen, Drohnen und Artillerie das Feuer auf Nordisrael. Das Ziel war es, die Hamas zu unterstützen und Israel zu schwächen; die Hizbollah versprach, den jüdischen Staat so lange anzugreifen, wie der Krieg im Gaza-Streifen andauere. Da die israelische Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu das Militär nicht aus dem Gaza-Streifen abzieht und eine Vereinbarung zur Freilassung von 101 israelischen Geiseln, die sich noch immer in den Händen der Hamas befinden, weiterhin nicht zustande kommt, könnte der fragile Waffenstillstand bald gebrochen werden.

Drohnen am Himmel

Die Hizbollah übt de facto die Kon­trolle über den Libanon aus, dessen Armee dem Treiben der Schiitenmiliz nach dem Krieg mit Israel im Sommer 2006 entgegen den Vorgaben der Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats bislang ebenso wenig entgegengetreten ist wie die dafür aufgestellte UN-Truppe Unifil. Obwohl die Hizbollah durch die israelische Offensive erheblich geschwächt wurde, ist fraglich, ob sich an dieser Ausgangslage etwas ändert.

Während am Himmel über Misgav Am israelische Drohnen zu sehen sind, die die Aktivitäten auf beiden Seiten der Blauen Linie beobachten, wollen sowohl Libanesen als auch Israelis in die Gemeinden zurückzukehren, die zu Beginn des Kriegs evakuiert wurden. »Die Bewohner wollen eine permanente Anwesenheit der IDF in großem Maßstab an der Grenze sehen, das gibt uns Selbstvertrauen«, sagt Graziani. »Durch die Anschläge vom 7. Oktober hat sich das gesellschaftliche und politische Leben auch im Norden verändert.«

Der Einmarsch von Bodentruppen der IDF in den Südlibanon sollte die terroristische Infrastruktur der Hizbollah in der Grenzregion zerstören. Selbst wenn die Terrorarmee nicht wieder in dieses Gebiet einsickert, verfügt sie mutmaßlich noch immer über ein beträchtliches Arsenal an Raketen und Geschossen, das sie gegen den jüdischen Staat einsetzen könnte.

Schiitische Dorfbevölkerung

Die Lage bleibt angespannt. Bereits am Tag nach dem Inkrafttreten des Waffenstillstands entdeckten die IDF Terrorvorbereitungen der Hizbollah und bombardierten eine Stellung. Die israelische Luftwaffe flog erneut Angriffe auf den Libanon, die Hizbollah beschoss israelisches Territorium mit Raketen. In Erwartung weiterer gefährlicher Salven verhängten die IDF zahlreiche Beschränkungen für zivile Aktivitäten im Norden.

»Mittlerweile haben beide Seiten den Punkt erreicht, in dem die anhaltenden Angriffe keine Erfolge bringen«, sagt Eitan Shamir, Direktor des Begin-Sadat-Zentrums für strategische Studien an der Bar-Ilan-Universität, im Gespräch mit der Jungle World. »Auch möchte Israel keine langfristige Präsenz im Libanon.«

Im Rahmen des Abkommens wird es Libanesen gestattet, in ihre Ortschaften nahe der Blauen Linie zurückzukehren, nachdem sie entweder geflohen oder von den IDF zur Evakuierung aufgefordert worden waren. Die Dorfbevölkerung ist überwiegend schiitisch, es wird befürchtet, dass die schiitische Hizbollah dort Unterstützung findet. »Hier liegt die größte Pro­blematik des Abkommens«, erklärt Shamir. »Dies eröffnet der Hizbollah erneut die Möglichkeit, sich wieder aufzustellen, um eine zukünftige Invasion in Israel vorzubereiten. In dieser Region leben ihre Hauptunterstützer und deshalb wird sie wieder zu ihrer militärischen Hochburg werden, ohne dass die libanesische Armee es verhindern kann.«

3.000 Kämpfer der Hizbollah getötet

Als die Hizbollah nach dem Krieg 2006 ihre Stellungen im Südlibanon ausbaute, reagierte Israel zögerlich, um eine Eskalation zu vermeiden. Die Befürchtung, dass diese Stellungen mit ihrem Tunnelsystem für eine Invasion genutzt werden könnten, führte nach dem 7. Oktober 2023 dazu, dass über 60.000 Einwohner aus den grenznahen Ortschaften Nordisraels evakuiert wurden.

»Dieser Offensive wurde vereitelt«, sagt Tal Beeri, Forschungsdirektor am Alma Center, einem Institut, das sich auf Sicherheitsherausforderungen an der Nordgrenze Israels konzentriert, im Gespräch mit der Jungle World. »Israel hat die Infrastruktur nahe der Grenze zerstört, die als Sprungbrett für eine Invasion dienen sollte. Auch wurde Radwan, die Eliteeinheit der Hizbollah, erheblich geschwächt. Experten schätzen, dass fast 3.000 Kämpfer der Hizbollah getötet und viele verwundet wurden. Sie hat auch immer weniger Möglichkeiten, israelische Grenzgemeinden mit Panzerabwehrraketen kurzer Reichweite in Angst und Schrecken zu versetzen. Angesichts von Zehntausenden verbliebenen Raketen auch mit großer Reichweite gibt es allerdings keine Lösung, die diese Bedrohung vollständig beseitigen wird.« Für den Sicherheitsexperten hängt der Erfolg des Waffenstillstands davon ab, ob die IDF im Fall eines Verstoßes sofort handeln, trotz der Eskalationsgefahr.

Nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums wurden seit Beginn der Kämpfe 4.000 Menschen getötet, die meisten davon in den vergangenen zwei Monaten seit Beginn der israelischen Bodenoffensive und der Intensivierung der Luftangriffe. Der jüdische Staat verzeichnet 100 Opfer durch das Feuer der Hizbollah. Noch ist das nordisraelische Grenzgebiet eine militärische Sperrzone, die Zivilisten nicht betreten dürfen, was grüne Schildern kenntlich machen.

Geiseln als Druckmittel

»Das Abkommen garantiert Israel mit gewissen Einschränkungen das Recht, die Hizbollah anzugreifen«, erklärt Beeri. »Der wichtigste Test für Netanyahu wird sein, ob die Bewohner in ihre Häuser zurückkehren. Doch hundertprozentige Sicherheit wird es nie geben. Damit die Menschen dort wieder ruhig leben können, müsste ein verstärktes Truppenkontingent der IDF die Grenze schützen.«

»Es gibt in Netanyahus Kabinett Druck von rechtsextremen Ministern, den Krieg fortzusetzen«, sagt Sivan Graziani. »Es kam zwar mit der Hizbollah zu einem Waffenstillstand, aber nicht zu einer Einstellung der Feindseligkeiten an allen Fronten, wie etwa im Gaza-Streifen und im Westjordanland. Das wiederum macht es wahrscheinlicher, dass der Norden Israels wieder in den Konflikt hineingezogen wird.«

Trotz des Waffenstillstandsabkommens wird Israel wohl weiterhin versuchen, die Aufrüstung proiranischer Milizen zu unterbinden; zudem beschleunigt das iranische Regime offenbar sein militärisches Atomprogramm.

Nach der zumindest vorübergehenden Entlastung an einer Front kann die israelische Regierung nun mehr Aufmerksamkeit auf den Gaza-Streifen richten. Über ein Jahr nach Kriegsbeginn ist die Hamas erheblich angeschlagen, das israelische Militär ist in einigen Gebieten weiterhin präsent, darunter am Grenzübergang zu Ägypten. Doch der Hamas bleiben die Geiseln als Druckmittel, die palästinensische Terrororganisation fordert für deren Freilassung einen vollständigen Rückzug der IDF.

Auch der Konflikt mit dem Iran, ohne dessen Unterstützung die Angriffe von Hamas und Hizbollah nicht möglich gewesen wären, dauert an. Trotz des Waffenstillstandsabkommens wird Israel wohl weiterhin versuchen, die Aufrüstung proiranischer Milizen zu unterbinden; zudem beschleunigt das iranische Regime offenbar sein militärisches Atomprogramm. Das könnte zu einem umfassenden Krieg führen.

»Es wird keinen vollständigen Sieg geben«, sagt Graziani. »Die Hizbollah ist nicht besiegt. Sie verfügt noch immer über die nötigen Fähigkeiten und die Unterstützung des Iran. In Israel wissen wir, dass der Kampf leider weitergehen wird.«