05.12.2024
Über eine Million Menschen ­verlassen Kuba

Die einsame Insel

Luxuslimousinen kutschieren die kleine im Entstehen begriffene Klepto­kratenklasse durch die vereinsamten und vermüllten Straßen Havannas. Währenddessen verlässt die Jugend den Inselstaat in einem bis dato unbekannten Ausmaß. Die kubanische Gesellschaft altert im Rekordtempo.

Es ist nicht Kubas Jahr – oder Jahrzehnt. Neben den in der Saison üblichen Hurrikanen wurde das öffentliche Leben der Insel in den vergangenen Wochen von Erdbeben, Treibstoffknappheit und teilweise mehrere Tage währenden Stromabschaltungen (apagones) unterbrochen. Kein Strom, das heißt auf der Insel vor allem: keine Mobiltelefone, kein fließendes Wasser und keine Kühlung für Fleisch und andere ohnehin knappe Lebensmittel. Einer nach Jahrzehnten des US-Wirtschaftsembargos ohnehin maroden Infrastruktur setzt die derzeitige Extremwetterlage weiter zu – der Hurrikan »Rafael« beschädigte allein in Havanna 654 Gebäude und zerstörte 28.

Insbesondere auf die Stromausfälle, ob nun bedingt durch umgeknickte Strommasten oder Treibstoffmangel, folgen immer wieder spontane Proteste, zuletzt in Vedado, einem der eigentlich besseren Viertel in Havanna. Die städtische Müllabfuhr funktioniert selbst hier schon länger nicht mehr, und durch die Müllberge an den Straßen graben sich die Männer der urbanen Unterschicht auf der Suche nach Ess­barem oder Verwertbarem – zumindest die, die noch da sind.

Denn neben den aktuellen und offensichtlichen Baustellen kämpft Kuba seit nunmehr einem halben Jahrzehnt mit viel schwerer wiegenden und längerfristigen Problemen. Ausgelöst durch die Verschärfung der US-Sanktionen während der Amtszeit Donald Trumps und den Einbruch des Tourismus aufgrund der Covid-19-Pandemie, kämpft der Inselstaat seit 2020 mit einer schweren Wirtschaftskrise und einer Inflation, die auch eine ganze Reihe von Reformen bisher nicht unter Kon­trolle bringen konnte.

Die Ausreise von Kuba in die USA via Nicaragua kostet momentan inklusive Flugticket und dem Anteil von Schleusern und Kartellen etwa 5.000 US-Dollar.

Während der ­offizielle Wechselkurs des Pesos weiterhin bei 24 Peso für den Dollar liegt, können auf der Straße oder bei den zahlreichen privaten Wechslern inzwischen bis 340 Peso für einen US-Dollar erzielt werden. Zwar ist in den neuen kleinen Privatgeschäften inzwischen einiges an Waren des täglichen Bedarfs erhältlich, allerdings weit außerhalb der finanziellen Möglichkeiten der einfachen Bevölkerung. Gleichzeitig leeren sich die Lebensmittelmarken entgegennehmenden öffentlichen Abgabestellen. Im Juli verfügte die Regierung neue Preisobergrenzen für Hühnchen, Öl, Milchpulver, Nudeln, Wurst und Waschpulver, und im September wurden die Brotrationen reduziert, die gegen die Vorlage von Stempelheften (libretas) erhältlich sind.

Bereits infolge der Covid-19-Pandemie führte die desolate Lage auf der Insel zu einer Auswanderungswelle, die zahlenmäßig die Mariel-Bootskrise 1980 und die Balsero-Krise 1994 bei weitem übertrifft. Seit der Aufhebung der Visumspflicht für Kubaner:innen im Bruderland Nicaragua im November 2021 machten sich Hunderttausende auf den Weg, zunächst via Charterflug und dann über den beschwerlichen und gefährlichen Landweg an die US-amerikanisch-mexikanische Grenze. 2023 erreichten über 50 solcher Flüge jeden Monat Nicaraguas Hauptstadt Managua. Die Passage kostet derzeit inklusive Flugticket und dem Anteil von Schleusern und Kartellen etwa 5.000 US-Dollar.

Mehr als eine halbe Million Menschen haben Kuba in den vergangenen fünf Jahren verlassen

Über 400.000 Kubaner:innen erreichten die USA in den Fiskaljahren 2022 und 2023. Im Januar 2023 nahm die Regierung Joe Bidens neben Haiti, Nicaragua und Venezuela auch Kuba in das »Humanitarian Parole Program« auf, bei dem eine legale Einreise auf Basis von Bürgschaften erfolgen kann. Über 100.000 Kubaner:innen nahmen diese Möglichkeit wahr und 1,6 Millionen stellten Anträge auf Einreise. Im August wurde das Programm wegen Betrugsverdachts ausgesetzt.

Bessergestellte Wissen­schaft­ler:in­nen oder Künstler:innen nehmen Stipen­dien im Ausland an und kehren dann nicht zurück. Die Jungen und die Ungebundenen gehen im Ausland auf die Suche nach einem besseren Leben; zurück bleiben – bei einer Gesamtbevölkerung von elf Millionen – die, die die Reise aus persönlichen Gründen oder politischen Überzeugungen nicht antreten können oder wollen, wobei die Letzteren immer weniger werden. Konservative Schätzungen gehen von mehr als einer halben Million Menschen aus, die das Land in den vergangenen fünf Jahren verlassen haben.

Denn das größte Problem des einstigen Traumlands vieler Linker sind nicht die Naturkatastrophen oder die Wirtschaftskrise, sondern die nicht enden wollende Hoffnungslosigkeit. Im Verlauf des Tourismuseinbruchs während der Pandemie gab es noch jene, die an die Rückkehr der Kreuzfahrtschiffe glaubten, die die darbenden Salsa-Bars und Zigarrenverkäufer in Habana Vieja zurück auf die Weltbühne holen würde; nun, ein halbes Jahrzehnt später, sind sie weitgehend verstummt.

Stattdessen lebt infolge der anhaltenden Emigra­tion eine wachsende Anzahl von Kuba­ner:in­nen von den Rücküberweisungen (remesas) ihrer Angehörigen in den USA oder Spanien oder ist auf die Bestellung von sogenannten combos angewiesen, Care-Paketen, die im Ausland bestellt, mit ausländischer Währung bezahlt und dann auf der Insel von spezialisierten Lieferdiensten zugestellt werden.

Eine parteinahe Klasse bereichert sich, während die Masse der Bevölkerung verelendet

Neu hinzugekommen ist allerdings eine winzige reiche Oberschicht, die in Luxuslimousinen durch das dystopische Stadtbild von Havanna kutschiert wird. Die Kontrolle über das Import-Export-Geschäft oder Zugang zu den Lizenzen für Bier oder Tabakprodukte ist mit der Zunahme von Privatgeschäften und der Verfügbarkeit von ausländischen Währungen rentabel geworden.

Davon zeugt auch die Luxusbar, die hinter den zugemüllten Straßen Vedados an der Uferpromenade, dem ­Malecón, die Karibik überblickt. Vor ihr stehen die europäischen und ameri­kanischen Luxusautos, die ankündigen, dass Kuba wohl in der nahen Zukunft einen vergleichbaren Weg gehen wird wie andere vormals realsozialistische Staaten: Eine parteinahe Klasse bereichert sich, während die Masse der Bevölkerung verelendet – mit dem Unterschied, dass hier nicht die Überschüsse der Industrieproduktion ­abgeschöpft werden, sondern die Rücküberwei­sungen der migrierten Kuba­ner:innen.

Das nachlassende Interesse Chinas und Russlands am Inselstaat zusammen mit der Wiederwahl Trumps deuten trotz des Einflussverlusts der traditionellen Schickeria des kubanischen Exils in Miamis ­Little Havana darauf hin, dass sich die Situation in der nahen Zukunft eher nicht zum Guten wenden wird. Die wirtschaftliche und psychologische Krise wird wohl weitergehen – und möglicherweise einem der langlebigsten realsozialistischen Versuche ein Ende setzen.