12.12.2024
Die israelischen Musiker Guy Moses und Omer Moskovich über den 7. Oktober

Im Über­lebens­modus

Die israelische Musikszene reagiert auf das Massaker des 7. Oktober und seine Folgen: Der Musikproduzent Guy Moses veröffentlichte eine Compilation mit zahlreichen Gastmusikern, die Sängerin Omer Moskovich veröffentlichte ebenfalls eine Platte. Auf beiden werden Trauer, Traumata und Identitätskrisen behandelt.

Es begann mit einem Post, den der Dichter und Sänger Arik Eber Ende Oktober 2023 veröffentlichte: »Doch in all dieser Wirrnis gibt es auch große Klarheit / Im Moment des Erstickens gibt es plötzlich ein klares Zuhause.« Wie viele israelische Kreative war der Musiker Guy Moses nach dem 7. Oktober 2023 in künstlerischer Hinsicht wie gelähmt. Doch als er Ebers Gedicht »Große Klarheit« las, wurde das erste Mal seit dem Hamas-Massaker in dem in Tel Aviv lebenden Künstler wieder das Bedürfnis geweckt, Musik zu produzieren.

Aus dem Gedicht wurde ein künstlerisches Projekt: Nachdem Eber und er es vertont hatten, bat Guy weitere israelische Künstler:innen, ihm einen Text zu bringen, den sie seit dem 7. Oktober geschrieben hatten. Heraus kam ein Album, das berührender kaum sein könnte: »P’takim« heißt es auf Hebräisch, »Notizen«, und wurde am ersten Jahrestag des 7. Oktober veröffentlicht. Insgesamt 13 »Notizen« hat Moses gesammelt, die er jeweils auf beeindruckende Weise musikalisch untermalt hat.

»Jeder Israeli und jede Israelin befinden sich momentan an einem extrem schwierigen Scheidepunkt: Gehen oder bleiben?« Guy Moses

Wer in das Album hineinhört, wird sofort feststellen: Hier gibt keinen tonangebenden Musikstil, viel eher steht jedes Lied musikalisch für sich. Da ist zum Beispiel der Song von Bento, der die Geschichte einer Frau erzählt, die um ihren ermordeten Partner trauert und zugleich wütend auf ihn ist, da er sich gegen die Hamas-Schergen gestellt und sie allein gelassen hat. Da sind die vom Schauspieler Uri Gavriel gelesenen Texte, die das Herz enger werden lassen.

Und da ist das Schau­spieler:innen­paar Menashe Noy und Keren Mor, das zwischen Verzweiflung und Zuversicht schwankt. »Du gibst auf, oder?« fragt er. »Hier ist nicht Europa«, antwortet sie, »das hier ist der Nahe Osten.«

Steuerte die musikalische Untermalung für »Notizen« bei: Der Musik­produzent Guy Moses

Steuerte die musikalische Untermalung für »Notizen« bei: Der Musik­produzent Guy Moses 

Bild:
Rona Bar

»Das besonders Interessante an dem Projekt ist die Vielfalt der Stimmen«, erzählt Moses im Gespräch mit der Jungle World. »Wir alle waren der schrecklichen Realität des 7. Oktober ausgesetzt, sie hat in uns allen nachgehallt. Und doch hat sie jeder anders erfahren und verarbeitet. Auf dem Album will ich diese Geschichte erzählen und das kollektive Erlebnis mit je subjektiven Erfahrungen beschreiben. Wie eine Art Prisma wirft jedes Lied einen eigenen Lichtkegel auf unsere Erfahrung des letzten Jahres. Es beginnt mit dem Zusammenbruch. Nach und nach lasse ich dann kleine Lichtstrahlen herein.«

Eröffnet wird das Album von Gilad Kahana, dem Lead-Sänger der bekannten israelischen Rockband Girafot. Er und Moses arbeiten schon seit Jahren zusammen – Kahana bringt die Texte, Moses kümmert sich um die Musik. Doch dieses Mal war es anders: Kahana brachte keinen Text mit, sondern erzählte seinem Freund von einem Begräbnis. Eine Familie aus einem der angegriffenen Kibbuzim hatte sich an ihn gewandt. Ihre Tochter war bereits um 6.30 Uhr umgebracht worden. Die junge Frau war großer Girafot-Fan, also lud man die Band ein, bei ihrem Begräbnis zu spielen.

Gilad Kahana versagte die Stimme - es kamen nur Tränen

Doch als Kahana auf dem Friedhof stand und zu singen ansetzen wollte, versagte ihm die Stimme. Es kamen nur Tränen. Bewusst entschied sich Guy Moses daher, das erste Lied des Albums mit dem jüdischen Trauergebet »El male rachamim« – Gott voller Erbarmen – beginnen zu lassen, bevor Kahanas Stimme einsetzt. »Das Ende ist noch nicht geschrieben«, beginnt er, »wie kann man über diese Sache singen? Wie könnte man nicht?«

Auf die traurige Eröffnung folgt mit voller Wucht das schnelle, fast gerappte Stück »Identitätskrise« der Sängerin Jenny Penkin. »Ich habe keine Ahnung, wer oder was ich bin«, singt Penkin wütend. »Ich dachte, ich wär’ eine schöngeistige Linke – Jetzt ist klar, das bin ich nicht. Bin weder links noch schöngeistig, ich bin brutal und traurig. Das ist wohl das, was Trauma mit einem macht.«

Sind ebenfalls auf der Compilation »Notizen« vertreten: die Sängerin Jenny ­Penkin und der Schriftsteller Etgar Keret

Sind ebenfalls auf der Compilation »Notizen« vertreten: die Sängerin Jenny ­Penkin und der Schriftsteller Etgar Keret

Bild:
Uri Taub / Lielle-Sand

Penkins Text, so Moses, habe viele Menschen erreicht. Aufgrund seiner Direktheit, aber auch, weil er das Gefühl der Orientierungslosigkeit und der Wut so prägnant auf den Punkt bringt. Moses, dessen Großeltern den Holocaust überlebten und der während der Zweiten Intifada in Jerusalem aufgewachsen ist, kann den Text Jenny Penkins nachvollziehen: »So viele haben diesen Bruch der Identität erlebt. Mir ist der Boden unter den Füßen weggebrochen. Ich hatte das erste Mal im Leben das Gefühl, im Überlebensmodus zu sein.«

Den bitter-ironischen Abschluss des Albums bildet eine Kurzgeschichte von Etgar Keret über eine Identitätskrise der ganz anderen Art: Keret erzählt von dem gottesfürchtigen Jechiel Nachmann, der Tag ein, Tag aus für die Geiseln betet, bis er vor lauter Beten an einem Schlaganfall stirbt. Als er jedoch im Himmel ankommt, hat Gott keine Ahnung, was Jechiel von ihm will.

Etgar Kerets ironische Pointe

Diese ironische Pointe, so Moses, sei ein Seitenhieb gegen die Ultraorthodoxen: »Wie kann es sein, dass sie meinen, ihr Beitrag zur Gesellschaft kann ausschließlich Beten sein? Sie zahlen keine Steuern, gehen nicht in die Armee, weil sie beten müssen? Bei Etgar ­bekommt das ganze einen zynischen Twist, indem Gott in seiner Geschichte am Ende gar nicht weiß, wovon Jechiel eigentlich spricht.«

Auch die Tel Aviver Sängerin Omer Moskovich hat eine ihrer »Notizen« für Moses’ Album eingesungen. Ihr Lied »Und die Seele, was ist mit der?« ist eine abgewandelte Version der »haTikwa«, der israelischen Nationalhymne. Omer Moskovich ist für ihre feministischen und kritischen Texte bekannt, die Musikvideos der aus einer Künstler:innenfamilie stammenden Sängerin sind echte Hingucker.

Omer Moskovich schrieb ein Lied ihres neuen Albums mit der Überlebenden Asia Greenberg aus dem Kibbuz Be’eri

Omer Moskovich schrieb ein Lied ihres neuen Albums mit der Überlebenden Asia Greenberg aus dem Kibbuz Be’eri

Bild:
Zohar Ralt

Im Clip zu »Komm, schließen wir uns der Herde an« springt Moskovich in einem mit Israel-Flagge bedruckten Badeanzug am israelischen Unabhängigkeitstag durch die Stadt; in »Ratschläge« singt sie in einem mit 500-Shekel-Scheinen bedruckten Crop-Top voller Ironie davon, dass man im Leben nur »Geld, Glück und dicke Haut« brauche – und »wen kümmern schon die Fremdarbeiter?« Im Video für »Solidarität« paradiert sie mit knallpinken Gewehren und einem Panzer in der Wüste, und teilt mit: »Die Solidarität ist tot, hast du’s noch nicht verstanden?«

Doch dann kam der 7. Oktober. Statt mit pinken Pistolen zu singen, steht Moskovich in ihren neuen Musikvideos in einem demolierten Haus oder vor dem großen »Bring them home«-Banner auf dem Habima-Platz in Tel Aviv. Ihr jüngstes Album, das im Januar 2024 erschien, ist vom Wunsch geprägt, Trost zu spenden. »Während meine Musik vor dem 7. Oktober viel rebellischer war, wollte ich jetzt vor allem das Gemeinsame betonen«, erzählt sie im Gespräch mit der Jungle World.

Eiserne Schwerter, eiserne Herzen

»Lewawot Barsel« heißt das Album, »Eiserne Herzen«, und ist damit eine deutliche Anspielung auf den offiziellen isra­elischen Namen des Gaza-Kriegs, »Charwot Barsel«, »Eiserne Schwerter«. »In der ersten Zeit nach dem 7. Oktober fühlte es sich an, als ob mein Herz verplombt worden wäre. Es fühlte sich an, als würde ich niemanden lieben. Die Lieder auf meinem Album sind genau das Gegenteil; sie sind ein Versuch, das Herz wieder zu öffnen, wieder Schmerz zu empfinden, vielleicht sogar zu verzeihen.«

Das erste Lied des Albums schrieb Moskovich gemeinsam mit der Überlebenden Asia Greenberg aus dem Kibbuz Be’eri. Es ist eine Hymne auf das Selbstvertrauen, auch wenn einem der Boden unter den Füßen wegzubrechen scheint. In »Meinungen« singt sie davon, lieber an das Verbindende zwischen Menschen zu glauben, als an Meinungen festzuhalten: »Meinungen sind overrated«, lautet der Refrain, »vor lauter Meinungen wirst du nationalistisch oder beginnst, dich selbst anzubeten, oder wirst wie die, die dir vorschreiben, was Judentum ist.« Sie bevorzuge den Glauben an das Verbindende, erzählt Moskovich, an das Menschliche. Es scheint ihr, als müssten alle eine Seite wählen: entweder Israel oder Palästina. »Aber eine Seite zu wählen, wird uns nicht helfen. Meinungen entfernen zu oft voneinander, statt zu verbinden.«

Mag es farbenfroh: die Sängerin Omer Moskovich

Mag es farbenfroh: die Sängerin Omer Moskovich 

Bild:
Itay Deutsch

Eines der Themen, die in Moskovichs Liedern immer wieder auftauchen, ist die Frage nach dem Zu­hause – dem »Beit«, wie auch das Lied heißt, das »Eiserne Herzen« eröffnet. »Zuhause wird für mich immer ein Paradox bleiben«, sagt sie. Einerseits sei Israel ihr Zuhause. Andererseits, so singt sie auf ihrem Album von 2020, »wäre das hier mein Zuhause, dann wäre es meins, deins, unseres. Dann wäre es keine Wahl zwischen Ihnen und Uns.« Und so sei es immer noch, sagt sie.

Auch für Guy Moses stellt sich die Frage nach dem Zuhause dringender denn je: »Jeder Israeli und jede Israelin befinden sich momentan an einem extrem schwierigen Scheidepunkt: gehen oder bleiben? In Israel zu bleiben, ist wahnsinnig schwer, Israel zu verlassen, ist auch wahnsinnig schwer. Wo gehöre ich hin? Die Klarheit, von der Arik Eber auf meinem Album singt, ist für mich also eine vielschichtige: Einerseits will ich mein Kind schützen und von hier fliehen. Andererseits ist das hier mein Zuhause, wo meine Eltern und meine Freunde sind.«

Guy Moses: P’takim (Nana Disc)

Omer Moskovich: Lewawot Barsel (Nana Disc)