12.12.2024
Berliner Erzieher:innen berichten von ihrem Arbeitsalltag unter Personalmangel

Wie in der Legebatterie

Die Beschäftigten der kommunalen Kindertagesstätten Berlins sind überlastet. Fachkräftemangel und ein hoher Krankenstand prägen ihren Arbeitsalltag.

Schon die ersten Minuten am Morgen werden in der Kita von Erzieherin Anne Lembcke regelmäßig zu einem Balanceakt: Ein Kind will sofort mit ihr in die Bauecke, ein anderes mit ihr in die Puppenecke, einem anderen fällt die morgendliche Trennung von den Eltern schwer, ein viertes möchte auf ihren Schoß. »Wenn dann Eltern Fragen oder Informationen haben, muss ich abwägen. Ich kann nicht allen gerecht werden«, berichtet Lembcke der Jungle World. Das Problem heißt Personalmangel. Und der, so sagt sie, sei mittlerweile Dauerzustand.

Ähnliches schildert Katja, die ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, da sie wegen ihres gewerkschaftlichen Engagements in der Vergangenheit bereits Probleme gehabt habe. »Den Tag organisieren wir danach, wie viele Erzieher:innen überhaupt da sind«, sagt sie der Jungle World. Sie ist pädagogische Fachkraft in einer Kita der landeseigenen Kindertagesstätten Nordwest, die die Bezirke Reinickendorf, Spandau und Charlottenburg-Wilmersdorf abdecken. »Wir versuchen, zumindest die Aufsichtspflicht zu gewährleisten, aber eine altersgemäße Betreuung ist nicht möglich, wenn wir zeitweise zu dritt für 40 Kinder zwischen zwei und sieben Jahren zuständig sind.«

»Unter den aktuellen Umständen schaffen wir es nicht bis zur Rente.« Anne Lembcke, Berliner Erzieherin

»Halten in der Legebatterie« nennt Thomas Herfen diesen Zustand im Gespräch mit der Jungle World zynisch. Mit einem Bildungsauftrag habe das schon lange nichts mehr zu tun. Herfen arbeitet als Erzieher in einem Betrieb der Kindergärten City, die zuständig für Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg sind. Er berichtet, seine Kolleg:innen und er würden mittags versuchen, so viele Kinder wie möglich zum Schlafen zu überreden: »Anders könnten die Vollzeitkräfte gar nicht in die Pause gehen.«

Erst im Oktober hatte das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg der Gewerkschaft Verdi in zweiter Instanz untersagt, die Beschäftigten der kommunalen Kitas Berlins zu einem unbefristeten Streik aufzurufen. »Das hat uns ganz schön demotiviert. Die wollen unsere Probleme weiterhin ignorieren«, meint Katja frustriert.

Situation weiterhin angespannt

Die Situation ist weiterhin angespannt. Fachkräftemangel und hoher Krankenstand bringen die Beschäftigten der rund 280 städtischen Kitas schon seit langem an ihre Grenzen. Der Mitte Oktober veröffentlichte Kita-Entwicklungsbericht der Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, Katharina Günther-Wünsch (CDU), zeichnet hingegen ein positives Bild: Es seien nicht nur Kita-Plätze geschaffen worden, gleichzeitig habe sich auch der Betreuungsschlüssel aufgrund sinkender absoluter Kinderzahlen verbessert. Derzeit werde in den städtischen Kitas mit einem Schlüssel von knapp fünf Kindern pro Fachkraft gearbeitet, so ­Günther-Wünsch.

Der täglichen Realität in den Einrichtungen entspreche das jedoch nicht, betont Sabrina Schmidt im Gespräch mit der Jungle World. Sie ist Gesamt­elternvertreterin einer großen landeseigenen Kita. »Die Personalberechnung der Senatsverwaltung erfolgt nicht nach Kinderkopf, sondern richtet sich nach Gutscheinstunden.«

Wer sein Kind in eine Kita bringen möchte, muss beim jeweiligen Jugendamt des eigenen Wohnbezirks einen sogenannten Kita-Gutschein beantragen. Der stellt den Betreuungsbedarf eines Kindes fest. Schmidts Kritik an der Berechnung ist, dass die Kinder unabhängig vom Umfang des Gutscheins trotzdem alle zur selben Zeit in der Kita betreut würden. In Berechnungen werde das nicht berücksichtigt. Ebenso würden kurzfristige Ausfälle der Erzieher:innen nicht einbezogen, ergänzt Lembcke.

Krankheitsbedingte Ausfälle auf Höchststand

In Berlin haben krankheitsbedingte Ausfälle einen Höchststand erreicht. Einer Studie der Bertelsmann-Stiftung und der Krankenversicherung DAK zufolge liegen sie beim Berliner Kita-Personal weit über denen anderer Berufsgruppen sowie über dem bundesweiten Durchschnitt des Kita-Personals. Die Studie spricht in Berlin von durchschnittlich 35,7 krankheitsbedingten Fehltagen pro Jahr. Das sind 15,3 Tage mehr als im Durchschnitt anderer Berufsgruppen und 6,1 Tage mehr als im bundesweiten Durchschnitt von Erzieher:innen. Die hohen Krankenstände haben Katja zufolge zwei Gründe: Erstens bringen Eltern regelmäßig kranke Kinder in die Kita und zweitens sei da die Überlastung, die die wesentliche Rolle spiele: »Viele Erzieher:in­nen können nicht mehr. Der Personalmangel äußert sich in Erschöpfung.«

Deshalb, so Lembcke, beginne ihr Arbeitstag immer mit dem Gang zum Dienstplan und der Frage, ob sie den Kindern zugeteilt sei, zu denen sie bereits eine Beziehung aufgebaut habe. Oft müssten Pläne umgeworfen und feste Gruppen kurzfristig auseinandergerissen werden. »Auch die Kinder hatten einen Plan für den Tag. Unsere pädagogischen Angebote entwickeln wir nach den Ideen der Kinder und nach unserem Fachwissen. Aber oft steht die Bildungsqualität an letzter Stelle.«

Sogar Ausflüge auf den Spielplatz oder in die Bibliothek fallen einfach aus. »Die Kinder fragen danach. Wir müssen ihnen dann erklären, warum wir vieles nicht anbieten können«, ­berichtet Katja. Auf Kinder mit höherem Betreuungsbedarf angemessen einzugehen, sei unmöglich. Angebote, die nur wenige Kinder ansprächen oder einbezögen, könnten ebenso wenig stattfinden.

CDU-Senatorin: Kind mit zur Arbeit nehmen

Herfen und seine Kolleg:innen haben bereits im Sommer eine Überlastungsanzeige gestellt. Damit melden Beschäftigte dem Arbeitgeber, dass aufgrund von Personalmangel und Krankenstand nicht mehr für die Aufsicht der ihnen anvertrauten Kinder garantiert werden kann. Auf die Meldung, so Herfen, sei zunächst eine Mediatorin in der Einrichtung gewesen. Anschließend seien Umstrukturierungen eingeführt worden. Doch gebessert habe sich die Situation nicht. Stattdessen fühle er sich wie ein Flicken auf dem Teppich. Dem Berliner Senat bescheinigt er, seinen Bildungsauftrag verfehlt zu haben.

Die Elternvertreterin Schmidt berichtet, die Situation sei sowohl für Er­zieher:innen als auch für Eltern und Kinder belastend. »Die Beschäftigten machen mit der Forderung nach einem unbefristeten Streik auf ein Problem aufmerksam. Doch statt gemeinsam mit den Erzieher:innen und Gewerkschaften nach Lösungen zu suchen, schweigt die Berliner Landespolitik das Problem tot.«

Und so sei der Senatorin, berichtet Schmidt, in einer Ausschusssitzung nichts Besseres eingefallen, als Eltern zu empfehlen, ihre Kinder bei Kita-Schließungen vorübergehend mit ins Büro zu nehmen. Ein Vorschlag, der nur für wenige Familien praktikabel sei, meint Schmidt. Sie habe eines ­ihrer Kinder einen Tag im Büro betreut. Mehr Arbeit als das Schreiben weniger E-Mails sei da jedoch nicht zu schaffen gewesen. Und Eltern, die im Schichtdienst oder nicht in einem Büro arbeiten, könnten sich so überhaupt nicht behelfen. »Da bleibt für viele kaum Raum für Solidarität mit den Er­zieher:in­nen. Die Eltern sind durch die unsichere Betreuung verzweifelt und haben existentielle Ängste, wenn die Kinderbetreuung nicht mehr funk­tioniert.«

»Bedingungen machen krank«

Um die Landespolitik unter Druck zu setzen, hat Schmidt gemeinsam mit Verdi ein Schnellmailing initiiert. Mit dieser von ihr vorformulierten E-Mail hätten immerhin 100 Eltern bereits an den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und Familiensenatorin Günther-Wünsch appelliert und sie zu Gesprächen mit den Beschäftigten und Gewerkschaften aufgefordert.

»Die Bedingungen machen krank. Unter den aktuellen Umständen schaffen wir es nicht bis zur Rente«, so Lembcke. »Unsere Arbeit ist körperlich anstrengend, dazu kommt der negative Stress auf Dauerflamme.« Die derzeitigen Arbeitsbedingungen machten den Beruf zudem unattraktiv für Berufsanfänger – ein Teufelskreis. »Ohne eine große Portion Idealismus kann man nicht als Erzieher:in arbeiten«, so Katja.

Die Erzieher:innen fordern Entlastung. Es brauche eine Mindestpersonalausstattung, auf die Auszubildende nicht angerechnet werden dürften. Gleichzeitig müsste die Quadratmeterzahl pro Kind erhöht werden.

Die Erzieher:innen fordern Entlastung. Es brauche eine Mindestpersonalausstattung, auf die Auszubildende nicht angerechnet werden dürften. Gleichzeitig müsste die Quadratmeterzahl pro Kind erhöht werden. Beides würde den Kita-Alltag sowohl für Er­zieher:innen als auch für Kinder erheblich verbessern. Mehr Personal ermögliche, auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen und pädagogische Angebote zu planen. Mehr Platz ver­ringere Konflikte unter den Kindern, die Ruhe ermögliche den Kindern ein besseres Lernen.

Katja betont zudem die Notwendigkeit interdisziplinärer Unterstützung zum Beispiel durch Sozial­pädagog:in­nen, Dolmetscher:innen und Psycho­log:innen. Denn oft seien die Er­zieh­er:in­nen für die Familien das alles zugleich. Wahrgenommen würde ihre Belastung jedoch kaum. Bei alldem handle es sich um einen »Flächenbrand«, meint Lembcke. »Aber Leugnen löscht den Brand nicht.«