12.12.2024
Arme Pflegebedürftige bangen um ihren Platz im Pflegeheim

Sozialhilfeempfänger müssen draußen bleiben

Wegen steigender Kosten melden einige Pflegeheime Insolvenz an, andere erhöhen ihre Preise. Die Folge: Immer mehr Pflegebedürftige sind auf Sozialhilfe angewiesen. Verbände beklagen allerdings enorme Zahlungsrückstände seitens der Sozialämter. Es ist ein Teufelskreis, unter dem vor allem ärmere Menschen leiden.

Das Seniorenheim Bölschestraße in Berlin-Friedrichshagen nimmt keine Sozialhilfeempfänger mehr auf. »Das ist ganz schlimm, menschlich ist das ein Wahnsinn, was wir da machen«, bedauerte Heimleiter Matthias Küßner im RBB. Aber durch die stark gestiegenen Kosten des Heimbetriebs sehe er sich zu dem Schritt gezwungen. Die Sozialämter würden einfach weniger zahlen als die Bewohner, die ihren Beitrag selbst tragen. Pro Bewohner betrage der Unterschied 1.600 Euro im Jahr; Geld, auf das das Heim nicht verzichten könne.

»Das war ein offenbar bisher einmaliger Vorgang, zeigt aber, wie drängend die Probleme der Einrichtungen mit den langen Zahlungsfristen der Behörden sind«, sagt Oliver Stemmann, der Landesvorsitzende des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste (BPA) Berlin, der Jungle World. »Die Probleme bestehen mit den Sozialbehörden. Sie zahlen ihre Rechnungen oftmals erst nach vielen Monaten. Unsere Mitgliedseinrichtungen in Berlin haben uns bei einer Abfrage in 2023 Außenstände der Bezirke in Höhe von über drei Millionen Euro gemeldet. Die tatsächliche Zahl dürfte noch deutlich höher liegen.«

»Ein Drittel der pflegebedürftigen Menschen in Heimen ist auf Sozialhilfe angewiesen.« Marlene Mann, Referentin für Pflege und Gesundheit bei der Volkssolidarität

Neuen Umfragen des Verbands katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD) zufolge weisen Sozialämter auch in diesem Jahr gegenüber Pflegeeinrichtungen Zahlungsrückstände auf. Fast drei Viertel der 130 befragten Träger, die insgesamt 287 Einrichtungen betreiben, sind demnach davon betroffen. Für durchschnittlich 18 Prozent der Bewohner stünden Leistungen der Sozialämter aus. Einige sehen deshalb bereits ihre Liquidität gefährdet. Der Bundesgeschäftsführer des Verbands Deutscher Alten- und Behindertenhilfe, Thomas Knieling, berichtet der Jungle World Ähnliches. Manchmal müssten die Pflegeheime mehrere Monate auf die Bewilligung der Kostenübernahme von Sozialhilfeempfängern warten.

Personalmangel und die steigende Zahl der Berechtigten hat die Bearbeitungszeiten in den Ämtern explodieren lassen. Die Folge: Heime riskieren eine Unterdeckung, wenn sie Bewohner aufnehmen, für die noch keine Bewilligung vorliegt. »Viele Heime bewegen sich im Bereich des Risikomanagements«, so Knieling. Stirbt ein Bewohner vor der Zusage des Sozialamts, bleibt das Pflegeheim sogar auf den gesamten Kosten sitzen. Auch rückwirkend zahlt das Amt nicht. Knieling fordert umfassende Reformen. Die Kosten seien dermaßen gestiegen, dass das derzeitige Modell an seine Grenzen komme.

Bisherige Pflegeversicherung durch eine Bürger:innenversicherung ersetzen

»Es braucht eine umfassende Pflegereform, die sowohl die Eigenanteile deckelt als auch die Pflegeversicherung langfristig finanziell stabilisiert«, sagt Marlene Mann, Referentin für Pflege und Gesundheit bei der Volkssolidarität, der Jungle World. Ihrem Verband seien derzeit zwar keine weiteren Fälle bekannt, in denen Sozialhilfeempfänger abgewiesen werden, aber sie betont die steigenden Beiträge.

»Der Eigenanteil für die Unterbringung in einem Pflegeheim liegt aktuell bei durchschnittlich 2.871 Euro pro Monat. Dadurch nimmt die Abhängigkeit von Sozialhilfe kontinuierlich zu. Ein Drittel der pflegebedürftigen Menschen in Heimen ist auf Sozialhilfe angewiesen«, warnt Mann. Und die zahlt – wie ein Träger aus Brandenburg Mann berichtete – nicht »die gleiche Höhe der investiven Kosten für einen Sozialhilfeempfänger wie selbstzahlende Bewohner«. Eine umfassende Reform sei also unabdingbar.

Wichtiger Bestandteil einer Reform müsse in den Augen der Volkssolidarität eine Pflegevollversicherung sein, die die bisherige Pflegeversicherung durch eine Bürger:innenversicherung ersetzt. Dafür plädiert auch die Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen e. V. (Biva). Sie sieht die Entwicklung deutlich kritischer, da sich an ihr Beratungsangebot immer öfter Menschen wenden, denen aufgrund der langen Bearbeitungszeit der Sozialämter, welche die Bewohner nicht zu vertreten haben, die Kündigung droht.

Katalysator der Krise

»Ich arbeite seit 14 Jahren bei der Biva. Diese Anfragen gab es früher nie und sie häufen sich in den letzten Jahren«, sagt Ulrike Kempchen, die Leiterin Recht der Biva, der Jungle World. Noch ist ihr kein Fall einer wirklich vollzogenen Kündigung bekannt, die Androhungen werden ihr zufolge aber rapide häufiger.

Durch das Tariftreuegesetz aus dem Jahr 2022 sind die Beiträge für die Heime enorm gestiegen, so dass immer mehr Menschen auf die Kostenübernahme durch die Sozialhilfe angewiesen sind. Eigentlich gut gemeint – sollte es doch der chronischen Unterbezahlung in der Pflege entgegen­wirken –, entpuppt sich das Gesetz zwei Jahre später als Katalysator einer Krise, die sich schon jahrelang zuspitzt. Dazu kommen stark gestiegene Kosten für den Unterhalt der Gebäude und Energie.

Ob Sozialhilfeempfänger aktiv abgelehnt werden, kann Kempchen nicht beurteilen. Oft erfolge die ­Ablehnung aufgrund mangelnder Kapazitäten – ob da auch die Einkommenssituation der zukünftigen Bewohner eine Rolle spiele, sei schwer zu sagen. Die gegenwärtige Krise lasse sich jedenfalls nicht schnell lösen, da ist sich Kempchen sicher.

»Wir leben in einem anbieterorientierten Markt«, so Kempchen. »Es gibt einen höheren Bedarf, als freie Plätze vorhanden sind.« Ihr Verband versucht durch Beratung und Unterstützung das Schlimmste für die Bewohner von Pflegeheimen abzuwenden. Immerhin – eine Kündigung ist ähnlich schwierig wie im Mietrecht. Eine Massen­obdachlosigkeit alter Menschen droht deshalb wohl nicht so bald. Als Sozialhilfeempfänger in Zukunft einen Platz zu ergattern, dürfte jedoch einem Glücksspiel gleichen.