Erdoğans Wackelpartie
Das Mullah-Regime im Iran machte sofort Israel und die USA für den Sturz des syrischen Diktators Bashar al-Assad verantwortlich. Der russische Vertreter beim UN-Sicherheitsrat beschuldigte später die Ukraine, und auch das fand die iranische Führung richtig. Doch den Präsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, unter dessen Kontrolle ein Teil des syrischen Rebellenbündnisses, nämlich die sogenannte Nationale Syrische Armee (NSA), steht, wollten Russland und der Iran partout nicht nennen, obwohl beide Mächte de facto vor den Ambitionen Erdoğans kapitulieren mussten.
Der Sturz Assads war vermutlich nicht Erdoğans oberstes Ziel in Syrien. Die aus der Türkei gelenkte Miliz NSA beteiligte sich nur vorübergehend am Kampf gegen den Diktator, um dann sofort mit einem Krieg gegen die kurdischen Kräfte zu beginnen, während sich die Hay’at Tahrir al-Sham (Organisation für die Befreiung Syriens, HTS) ohne die NSA aus dem Nordwesten Syriens auf den Weg Richtung Damaskus machte. Damit ist die HTS, geführt von Abu Mohammed al-Julani, der mittlerweile auch wieder seinen Geburtsnamen Ahmed Hussein al-Shar’a gebraucht, Erdoğans direktem Zugriff entwichen.
Mit einem militärisch kraftlosen und weitgehend delegitimierten Assad-Regime hätte Erdoğan gut leben können. Indessen könnte nun eine neue syrische Regierung die militärische Präsenz der Türkei im Land grundlegend hinterfragen. Doch eine solche Regierung müsste erst zustande kommen und Legitimität gewinnen, und das kann dauern. Assad hatte den Angriff der HTS zwar kommen sehen und sogar eine Urlaubssperre für seine Truppen verhängt, doch als die Rebellen eintrafen, hatten die Soldaten vielerorts ihre Stellungen bereits geräumt.
Donald Trump hat bereits angekündigt, dass er sich aus Syrien ganz heraushalten wolle. Er könnte die kurdischen Kräfte wie schon bei der türkischen Invasion 2019 erneut im Stich lassen.
Auch eine eilige Solderhöhung um 50 Prozent konnte die Moral der Streitkräfte nicht erneuern. Die russische und die syrische Luftwaffe warfen zwar reichlich Bomben ab, doch einen großen Teil davon weit hinter der Front auf Idlib und das von den überwiegend kurdischen Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), der HTS und NSA gemeinsam eingenommene Aleppo. Anscheinend funktionierte die Koordination in Assads maroder Armee nicht so recht, die ihrerseits von den Rebellen mit vielen Drohnen angegriffen wurde.
Wichtig für die erfolgreiche Offensive der HTS war auch, dass der sunnitische Islamist al-Julani versprach, die religiösen Minderheiten im Land unbehelligt zu lassen und auch an ehemaligen Anhängern des Regimes keine Rache zu nehmen. Bisher halten sich seine Leute auch daran.
Al-Julani hat eine einschlägige Vergangenheit. Er war Gründer und Emir der islamistischen al-Nusra-Front, die zum Netzwerk von al-Qaida gehörte. 2016 – nachdem das Scheitern des »Islamischen Staats« (IS) in Syrien offenkundig geworden war – löste al-Julani die al-Nusra-Front auf. Im Ergebnis eines komplizierten Übergangsprozesses wurde er zum Führer der HTS. Die HTS sieht sich nicht mehr als Teil eines weltumspannenden Jihad und will nach eigenen Angaben darauf verzichten, die Sharia in ihrem Machtbereich gewaltsam durchzusetzen. Unterstützung soll die Organisation aus Katar erhalten haben.
HTS in Idlib nicht besonders beliebt
Anders als kleinere islamistische Gruppen ließ sich die HTS von der Türkei nicht völlig vereinnahmen. Gegen andere Organisationen setzte die HTS sich im nordwestlich gelegenen Generalgouvernement Idlib mit Gewalt durch, nachdem der IS aus der Region vertrieben worden war. Außerdem installierte die HTS dort eine angeblich politisch unabhängige zivile Regierung, die Regierung zur Rettung Syriens (SSG).
Zur SSG gehört ein »Rat« (auf Arabisch: Shura), der Gesetze erlässt. Die Delegierten vertreten verschiedene Sektoren der Gesellschaft, ein Frauenwahlrecht gibt es nicht. Die Shura wählt einen Ministerpräsidenten für ein Jahr auf Probe. Die Amtszeit darf nur zweimal um ein Jahr verlängert werden. Der Amtsinhaber muss eine angesehene Person mit einer »revolutionären Geschichte« sein. Allein schon wegen der sehr kurzen Wahlperiode kann ein Ministerpräsident wenig bewegen. Die SSG ist mit ihrer schwachen Führung so konstruiert, dass sie kaum unabhängig von der HTS beziehungsweise al-Julani regieren kann. Es ist naheliegend, dass dem starken Mann der HTS ein ähnliches System wie das in Idlib für ganz Syrien vorschwebt. Ob er das erreichen kann, ist unklar.
Die HTS war in Idlib nicht besonders beliebt. Den Sieg in Damaskus erlangte auch nicht die HTS, sondern Kämpfer aus dem Süden, deren Widerstand gegen das Assad-Regime nicht religiös motiviert war. Diesen fehlt zwar eine Führungsfigur, doch sie werden sich wahrscheinlich nicht so einfach eine Verfassung wie in Idlib diktieren lassen. In Syrien sind die Dinge derzeit so im Fluss, dass al-Julani die Gunst der Stunde nutzen könnte, um schnell Tatsachen zu schaffen. So hat er kurzerhand bestimmt, dass die staatlichen Institutionen vorerst weiter unter der Aufsicht von Assads Ministerpräsident Mohammed Ghazi al-Jalali verbleiben. Ein pragmatischer Schritt, der aber zugleich den Verwaltungsapparat an al-Julani bindet. Solche grundlegenden Entscheidungen könnten zur Gewohnheit werden, die dann später nur noch formell legitimiert werden müsste.
Neue, innersyrische Flüchtlingskrise droht
Indessen treibt Erdoğan seinen Krieg gegen die kurdische Region Syriens unverdrossen weiter. Während man in der Türkei und in Europa von der möglichen Rückkehr syrischer Flüchtlinge spricht, droht eine neue, innersyrische Flüchtlingskrise. Jeder Vormarsch in kurdisch besiedeltes Gebiet in Syrien hat bisher Flucht und Vertreibung von Kurd:innen bedeutet. Das war 2018 in Afrin so und auch 2019 bei der Besetzung weiterer Grenzregionen. Bei der derzeitigen Offensive wurden Kurd:innen aus Lagern bei Tell Rifaat im Norden von Aleppo vertrieben, die zuvor schon aus Afrin vertrieben worden waren.
Bisher lässt Erdoğan nur seine SNA-Söldner am Boden kämpfen und unterstützt sie mit Artillerie, Drohnen und Flugzeugen. Wenn größere Erfolge ausbleiben, könnte er auch erneut türkische Bodentruppen einsetzen. US-Außenminister Antony Blinken hat derweil mit seinem türkischen Amtskollegen Hakan Fidan telefoniert, der ihm versichert hat, nichts zu unternehmen, was den Kampf gegen die Überbleibsel des IS beeinträchtigt. Und dabei sind die kurdisch dominierten SDF ein wichtiger Verbündeter für die USA. Doch Erdoğan dürfte entgegen den Beteuerungen Fidans von seinen Expansionsgelüsten in kurdische Gebiete nicht so einfach abrücken. Die Kämpfe zwischen SNA und SDF gingen nach dem Telefonat jedenfalls weiter. Der designierte US-Präsident Donald Trump hat bereits angekündigt, dass er sich aus Syrien ganz heraushalten wolle. Er könnte die SDF wie schon bei der türkischen Invasion 2019 erneut im Stich lassen.
Die derzeitige Bedrohung der syrischen Kurden durch die Türkei ist die eine Sache, eine andere die mögliche Integration in ein Syrien nach Assad. Das könnte bedeuten, dass politische Probleme Rojavas auf den Tisch kommen. Die demokratische Legitimation der dortigen Regierung ist nur um weniges besser als die der SSG. Eine wirkliche Wahl über ihre Regierungsform hatten die Menschen in Rojava bisher nie. Zwar werden andere Ethnien berücksichtigt und nicht zwangsassimiliert, aber im Grunde ist Rojava eine Art kurdischer Staat, geprägt von den Ideen des gefangenen PKK-Chefs Abdullah Öcalan. Der Name Rojava heißt auf Kurdisch Westen und meint Westkurdistan. Aber die Bevölkerung besteht nur etwa zur Hälfte aus ethnischen Kurd:innen und durch die Übernahme weiterer Gebiete durch die SDF nach dem Zusammenbruch des Regimes dürfte der kurdische Anteil weiter gesunken sein.
Julani gegen die türkischen Interventionen
Die ethnozentrische Verfassung Rojavas könnte dazu führen, dass Erdoğans Truppen, sollte ihnen ein Einzug nach Rojava gelingen, in manchen Randgebieten mit Jubel empfangen werden, während es gleichzeitig zu einer Massenflucht aus den fruchtbaren Gebieten nahe der türkischen Grenze kommt. Denn diese sind es, die einen besonders hohen kurdischen Bevölkerungsanteil aufweisen, weil dort viele Nachfahren von Kurd:innen leben, die zwischen 1925 und 1938 aus der Türkei nach Syrien geflohen waren.
Die Kurd:innen täten gut daran, über ihre Integration in ein hoffentlich demokratisches Syrien nachzudenken. Dann könnten sie umso mehr darauf pochen, dass sich Erdoğan auch aus den bereits von ihm besetzten Grenzregionen zurückzieht. Nach Iran und Russland wäre er dann der Dritte, der mit dem Sturz Assads viel verloren hätte.
Al-Julani hat sich bereits indirekt gegen die türkischen Interventionen ausgesprochen. Kaum in Damaskus angekommen, besuchte er die berühmte Umayyaden-Moschee und sagte: »Wir werden den Pfad fortsetzen, den wir begonnen haben, der auf ein freies Syrien zielt, frei von Tyrannei, frei von ausländischer Intervention und frei von Sektierertum.« Im Augenblick sind dies aber nicht mehr als schöne Worte.