Das heimliche Lager am Prypjat
Vilnius. »Wir erwarten Sie!« lautet der freundliche Slogan der »Prypjater Allianz«, einer staatseigenen Ladenkette im Süden von Belarus. Auf einem Grundstück des Unternehmens am Rand der Kleinstadt Narowlja nahe der ukrainischen Grenze befand sich jedoch eines der berüchtigsten sogenannten Filtrationslager der russischen Armee für ukrainische Bürger.
Das Lager zwischen dem Fluss Prypjat und einem alten jüdischen Friedhof wurde Anfang 2022 errichtet, als Teile der russischen Invasionsarmee aus Belarus Richtung Süden auf die ukrainische Hauptstadt Kiew vorrückten. Doch erst Ende November 2024 identifizierten Journalisten des in Warschau arbeitenden Belarussischen Investigativzentrums gemeinsam mit Kollegen in Belarus und der Ukraine anhand von Satellitenfotos und Interviews mit ehemaligen Insassen seinen genauen Standort.
Die russische Armee errichtete Anfang 2022 ein ganzes Netzwerk von Filtrationslagern, viele davon in der besetzten östlichen Ukraine und im russischen Grenzgebiet. Die Bezeichnung bezieht sich auf ihren Zweck, große Mengen ziviler Flüchtlinge aus den Kampfgebieten, Kriegsgefangene und von Besatzungskräften verhaftete Zivilisten zu verhören und nach politischen Kriterien zu selektieren, bevor ihnen beispielsweise die Einreise nach Russland erlaubt wird oder sie in dauerhafte Gefangenschaft geraten.
Offensichtliche Zeichen des Kriegs wie die Präsenz von russischen Militärdrohnen und -flugzeugen am Himmel kommen in staatlich kontrollierten belarussischen Medien nicht vor.
Operationsplänen der russischen Armee zufolge, die von der ukrainischen Armee erbeutet wurden, sollten Filtrationslager auch im Fall eines Siegs dazu dienen, gegen Russland eingestellte Teile der Bevölkerung in der Ukraine zu identifizieren und unschädlich zu machen. Es gibt zahlreiche Berichte über Gewalt und Folter in diesen Lagern.
Unter den in Belarus Inhaftierten waren zwei Söhne von Larisa Jagodinskaja, die in einem ukrainischen Dorf 45 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt lebt, das 2022 für einige Monate unter russische Besatzung geriet. Die russischen Soldaten »sagten, sie seien Saboteure, und nahmen sie mit nach Tschernobyl«, beschreibt sie ukrainischen Journalisten gegenüber die Festnahme ihrer Söhne. In Gefangenschaft seien sie geschlagen worden, ihrem älteren Sohn seien, wahrscheinlich mit einem Schlagstock, die Rippen gebrochen worden. Der jüngere wurde zurück in die Ukraine gebracht; der ältere befinde sich mittlerweile irgendwo in Russland, vermutet seine Mutter.
Hohe Strahlenbelastung wegen der Explosion im AKW Tschernobyl
Schon Mitte 2022 gab es Berichte über Folter in dem Filtrationslager in Südbelarus nahe Narowlja. Auch diesen gingen die Investigativjournalisten nach, indem sie mit mehreren Betroffenen sprachen, sowohl Zivilisten als auch ukrainischen Soldaten. Einer der befragten Zivilisten war minderjährig, als er in das Lager gebracht wurde. Von den Journalisten befragten Experten zufolge könnte das Vorgehen des russischen Militärs auch abseits dieser Misshandlungen einen Verstoß gegen die Genfer Konvention darstellen, weil Zivilisten ins Ausland verschleppt wurden und gefangene Soldaten und Zivilisten im selben Lager untergebracht waren.
Die Befragten beschrieben das Gelände des Lagers als ehemalige Kolchose, ein landwirtschaftlicher Betrieb im Staatseigentum. Auch Panzer und Flugabwehrkanonen seien dort zu sehen gewesen. Die Befragten sagten aus, sie hätten andere Gefangene schreien gehört.
Das Lager befand sich in einem abgelegenen Gebiet nahe der ukrainischen Grenze, das nach der Explosion des Atomkraftwerks Tschernobyl 1986 stark radioaktiv belastet wurde. Die meisten Einwohner des Bezirks leben an Orten, an denen sie wegen der hohen Strahlenbelastung offiziell das Recht auf eine Umsiedlung in einen anderen Landesteil hätten. Doch die staatlichen Medien spielen die Gefahr herunter und behaupten, die Bedingungen seien mittlerweile so gut, dass sich selbst junge Familien dort niederließen.
Nur eine Minderheit der belarussischen Bevölkerung unterstützt den Krieg
Auch über die Existenz des Gefangenenlagers schweigen sich die staatlichen belarussischen Medien aus. Auf Anfragen der Journalisten antworteten die offiziellen belarussischen Stellen nicht. Das Projekt Media IQ analysiert Manipulationen und Propaganda in belarussischen Medien. »Belarus ist kein Aggressor, Minsk ist für Frieden und Dialog in der Außenpolitik«, so fasst die NGO deren Botschaft zusammen.
Offensichtliche Zeichen des Kriegs gegen das Nachbarland wie die Präsenz von russischen Militärdrohnen und -flugzeugen am Himmel oder die Tatsache, dass die belarussische Regierung das Staatsgebiet und seine Infrastruktur für Angriffe auf die Ukraine zur Verfügung stellt, kommen in staatlich kontrollierten Medien nicht vor, ebenso wenig wie die ablehnende Haltung eines großen Teiles der belarussischen Bevölkerung gegen den Krieg. Sowohl Sabotageakte gegen die belarussische Eisenbahninfrastruktur als auch friedliche Proteste gegen die Invasion der Ukraine, die es trotz staatlicher Repression Anfang 2022 in Belarus gab, verschwiegen belarussische Medien.
Analysten des im Warschauer Exil ansässigen Think Tanks »Zentrum für neue Ideen«, der unter anderem die politischen Einstellungen von Belarussen erforscht, zufolge unterstützt nur eine Minderheit der belarussischen Bevölkerung den Krieg. Ende 2023 sagten einer Meinungsumfrage zufolge 38 Prozent der Befragten, sie lehnten den Krieg ab, 36 Prozent, dass sie ihn unterstützten, und 27 Prozent, sie seien unentschlossen.
Die Recherche über das Filtrationslager auf einem Grundstück eines staatseigenen Unternehmens zeigt einmal mehr, dass die belarussische Regierung keineswegs so unbeteiligt am russischen Krieg gegen die Ukraine ist, wie sie es ihrer eigenen Bevölkerung gegenüber darstellt.