02.01.2025
Der Band »Feministische Epistemologien« versammelt allerlei relativistisches Denken

Göttliche Tricks

Gegen die Idee der Objektivität richtete sich das relativistische Denken, dem man auch in der feministischen Theorie in Anschluss an Donna Haraway begegnet. Ihr Postulat des »situierten Wissens« war prägend, wie die Anthologie »Feministische Epistemologie« zeigt – und zwar bis in die Gegenwart, in der es zum blinden Aktivismus anleitet.

Die Wissenschaft gilt allgemein als die beste Möglichkeit, Erkenntnisse objektiv und unabhängig von Religion, Klassenzugehörigkeit, Kultur, Ethnizität oder anderen subjektiven Wertungen zu liefern. Selbst Marx, der von Anhängern wie Gegnern oft als Verfechter eines Klassenstandpunkts betrachtet wird, fordert im »Kapital« »uneigennützige Forschung«, ein »interessenloses Denken« und das »konsequente Fest­halten des rein theoretischen Standpunkts«, um das »Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen«.

Dabei distanzierte er sich zum einen deutlich von der Sentimentalität jener Kritiker des Kapitalismus, die nicht mehr zu sagen hätten, als dass Menschen unter ihm leiden. Zum anderen war Marx, wie er im Vorwort der Erstauflage jenes ersten Bands seiner »Kritik der politischen Ökonomie« schreibt, jedes »Urteil wissenschaftlicher Kritik« willkommen, aber in Hinsicht auf bloße Vorurteilen, die nur die öffentliche Meinung widerspiegeln, galt ihm der Wahlspruch Dante Alighieris: »Geh deinen Weg und lass die Leute reden!«

Derzeit wird die Vorstellung einer unparteilichen und zweckfreien Wissenschaft wieder vermehrt in Frage gestellt. Obwohl die Wissenschaft den Menschen die Mittel an die Hand gegeben hat, sich vom Naturzwang zu befreien und unermesslichen kulturellen und materiellen Reichtum anzuhäufen, haben doch vor allem die vergangenen 150 Jahre gezeigt, dass diese Herrschaft über die Natur auch in Herrschaft über Menschen verstrickt ist und die Aufklärung in Barbarei umschlagen kann.

Obwohl die Wissenschaft den Menschen die Mittel an die Hand gegeben hat, sich vom Naturzwang zu befreien und unermesslichen kulturellen und materiellen Reichtum anzuhäufen, haben doch vor allem die vergangenen 150 Jahre gezeigt, dass diese Herrschaft über die Natur auch in Herrschaft über Menschen verstrickt ist und die Aufklärung in Barbarei umschlagen kann.

Nun kann man die Wissenschaften nicht unmittelbar für die Folgen verantwortlich machen, die die technische Verwertung ihrer Resultate zeitigt, zu fragen bleibt aber trotzdem, ob die Forderung nach Wertfreiheit der Wissenschaften so unproblematisch ist, wie sie zunächst erscheint. Denn welchen Wert haben die Wissenschaften eigentlich, wenn sie nicht in der Lage sind, objektive Probleme zu lösen? Ist die Selbstverständlichkeit der Wertfreiheit selbst nur ein Resultat historischer Prozesse, die die ­Erfahrung immer stärker präformieren? Eine Reflexion dieser Fragen könnte Entgegnungen auf diverse technokratische Forderungen ermöglichen.

Eine andere Erwiderung liefert das relativistische Denken, das objektive Wahrheitsansprüche als schlechterdings nicht einlösbar betrachtet, weil Wissen nie Gültigkeit über die eigene individuelle Perspektive hinaus beanspruchen könne und somit letztlich zu bloßer Meinung degradiert wird. Der 1988 erschienene Aufsatz »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive« von Donna Haraway kann paradigmatisch für diese Ansicht stehen.

Gefährliche Konsequenzen

Die feministische Wissenschaftshistorikerin sieht in der Wissenschaft nichts weiter als ein »Spiel«, eine rhetorische »Überredungsstrategie« oder die »Kunst, die maßgeblichen Akteur:in­nen glauben zu machen, dass das fabrizierte Wissen ein Weg zu einer begehrten Form sehr objektiver Macht sei«. Geschult an postmoderner Philosophie und die damit einhergehende Engführung von Macht und Wissen wird behauptet, dass jede Objektivitätsvorstellung nichts weiter als ein »göttlicher Trick« sei. Die machtreduktionistische Auffassung von Wissen kulminiert bei ihr in der apodiktischen Behauptung: »Wissenschaft ist ein anfechtbarer Text und ein Machtfeld, der Inhalt ist die Form. Basta.« Feministische Wissenschaft braucht ihrer Ansicht nach keine »Objektivitätslehre, die Transzendenz verspricht«.

So leicht eine solche Schlussfolgerung von der Zunge gehen mag, so gefährlich sind ihre Konsequenzen. Wenn eine Perspektive so gut ist wie jede andere, dann kommt es »in Wahrheit« auf die Wahrheit nicht an. Erkenntnis und mit ihr Vernunft werden radikal entwertet. Theodor W. Adorno gilt derlei als Vulgärmaterialismus. In seiner »Negativen ­Dialektik« schreibt er, hinter der bloß abstrakten These, dass jedes Denken bedingt sei, »steht die Verachtung des Geistes zugunsten der Vormacht materieller Verhältnisse als das ­Einzige, was da zähle«. Stets war dem Relativismus, mag er noch so progressiv auftreten, ein reaktionäres Moment beiseitegestellt, gibt der Philosoph zu bedenken.

Was Haraway in ihrem Text zur Lösung dieser »Relativismusfalle« vorschwebt, ist eine neue Wissenschaft, die Politik und Epistemologie vermengt. Ihre so berühmte wie ­widersprüchliche Formel lautet: »Feministische Objektivität bedeutet (…) ganz einfach situiertes Wissen.« Solche feministischen Standpunkttheorien sind seit den achtziger Jahren die gängige Antwort auf die Frage, welche Meinung als besseres Wissen legitimiert werden sollte. Wissenschaft mit ihrem Anspruch auf Wertfreiheit und Objektivität wird als ein verzerrendes und parteiisches Mittel zum Erhalt einer androzentrischen Gesellschaft abgelehnt und die relativistische Grundposition zu einer Standpunkttheorie ausgebaut.

Verhältnis von Wissenschaft und Politik

Sandra Harding, eine der arriviertesten Vertreterinnen der feministischen Wissenschaftstheorie, sieht im Widerspruch zwischen wissenschaftlicher Objektivität und sozial situiertem Wissen kein Problem. Im Gegenteil, in ihrem Aufsatz »Standpunkttheorie neu denken: Was ist ›starke Objektivität‹?« aus dem Jahr 1993 schreibt sie, dass es nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich sei, einen begrifflichen Widerspruch zuzulassen. Es sei »vernünftig«, dass die »sozial situierten Grundlagen und Subjekte der Standpunkttheorien stärkere Standards für Objektivität erfordern und hervorbringen«.

Diese beiden und andere Texte aus der Diskussion über den richtigen Standpunkt, die größtenteils im englischsprachigen Raum stattfand, wurden nun für einen Reader mit dem Titel »Feministische Episte­mologien« zusammengetragen. Die beiden Herausgeber, der Freiburger Professor für Wissenschaftstheorie Frieder Vogelmann und die Frankfurter Soziologin Katharina Hoppe, erachten sie als relevant gerade »angesichts hitziger Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, erregter Diskussionen über historische und kontextualisierende Relativierungen von Wahrheit sowie enthemmter politischer Diskurse um ›Gender‹ als Kampfbegriff«. Die Texte, die hierfür größtenteils zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt wurden, ordnen sie in die Abschnitte »Genese«, »Grundlagen« und »Gegenwart«.

Eine Grundlage bildet dabei das Konzept der »starken Objektivität«. Eine Antwort darauf, was diese sein soll, bleibt Harding in ihrem Aufsatz allerdings schuldig. Auch in den weiteren Aufsätzen bleiben die entscheidenden Kriterien eher unbestimmt. Harding scheint zu glauben, dass Forschung, die von marginalisierten Subjekten betrieben wird, automatisch »weniger parteiische und verzerrte Darstellungen von Natur und sozialem Leben erzeugt«. In ihrer Konzeption ist es dann allerdings der Feminismus selbst, dessen Theorie »mit ihren reichen und widersprüchlichen Tendenzen (…) geholfen hat zu verstehen, wie es geht«.

Vorsichtige, skeptischere Positionen

Es erhärtet sich der Verdacht, dass es hier nicht um eine begriffliche Klärung dessen geht, welcher Weg zu mehr Objektivität in der Forschung führt, sondern um einen Aufruf, sich blind politischem Aktivismus anzuschließen. Dazu finden sich im Reader auch ein paar vorsichtige, skeptischere Positionen. Zum Beispiel bezweifelt Bat-Ami Bar On, dass das Konzept des epistemischen Privilegs mehr hergibt als normative Behauptungen, die nur für diejenigen gelten, die auch davon überzeugt sind und sie als »ermächtigend« empfinden.

Bereits früher gab es in Deutschland eine Debatte über Forschungsmethoden. Die mittlerweile verstorbene Ökofeministin und Konsumkritikerin Maria Mies wollte in ihrem programmatischen Text »Methodische Postulate zur Frauenforschung« von 1978 die theoretischen Konzepte der globalen Befreiungsbewegungen – darunter auch Schriften von Mao Zedong – in die Frauenforschung einführen. Sie propagierte, man müsse Wertfreiheit und Neutralität durch »bewusste Parteilichkeit« und »Identifikation mit den ›Forschungsobjekten‹« ersetzen.

Die Frauenforscherin Christina Thürmer-Rohr versteht solche Postulate in ihrem ebenfalls im Reader abgedruckten Text von 1984 als Ausdruck einer »optimistischen Phase der Frauenforschung«, in der die Vermischung von Moral und Methode allerdings nur zu Missverständnissen und Fehlleistungen geführt und die letztlich in eine Enttäuschung gemündet habe, weil der Forschung mehr abverlangt wurde als möglich: »Untersucherinnen, die sich um die Umsetzung der Postulate bemüht haben, sind, je ernster sie sie nahmen, mehr oder weniger jämmerlich gescheitert oder zumindest bitter enttäuscht worden.«

Viele Beiträge oszillieren zwischen einer Überschätzung einer feministisch kernsanierten Wissenschaft und der faktischen Abschaffung von Wissenschaft oder ihrer Auflösung in Politik, in der eine Meinung gegen die andere kämpft. 

Denn wenn, und diese Annahme durchzieht viele Texte im Reader, nicht mehr bestimmbar ist, was als objektives Wissen oder objektive Erkenntnis zählen soll, bleibt nur noch die Flucht nach vorn in den Machtkampf um gesellschaftliche Geltung. Viele Beiträge oszillieren daher notwendig zwischen einer Überschätzung einer feministisch kernsanierten Wissenschaft und der faktischer Abschaffung von Wissenschaft oder ihrer Auflösung in Politik, in der eine Meinung gegen die andere kämpft. Der mittlerweile oft zu hörende Ruf nach »partizipativer« und »transformativer« Wissenschaft zielt genau darauf, nämlich diese voreilig mit politischen Ansprüchen zu verknüpfen. Einer dogmatischen Praxis sind so Tür und Tor geöffnet, da politische Bewegungen aufgrund ihrer »intersektionalen Stellung« in der Gesellschaft gegen Kritik immunisiert werden.

Statt Wissen unabhängig von ­Interessen zu generieren, droht die »aktivistische Wissenschaft« ins strategische Verfechten sozialer und politischer Ansprüche abzudriften. Wenn das methodologische Prinzip der Wertfreiheit interpretiert werden darf als Forderung, die Wissenschaft von irrationaler Herrschaft zu befreien, schrieb der Adorno-Schüler und Chemiker Peter Bulthaup einmal sinngemäß, so ist dieses Ziel nur politisch zu erreichen. Mit einer standpunkttheoretischen Absage an die Möglichkeit allgemeingültiger Erkenntnis fällt auch die Möglichkeit von verbindlicher Kritik an Herrschaft, die zu überwinden wohl in der Tat nur politisch möglich ist.


Buchcover

Katharina Hoppe, Frieder Vogelmann (Hg.): Feministische Epistemologien. Ein Reader. Suhrkamp, Berlin 2024, 576 Seiten, 29 Euro