Angsttraum des Patriarchats
»Er wird kommen!« weiß Ellen Hutter (Lily-Rose Depp) – und nichts wird ihn aufhalten können. Denn »er« verkörpert das Begehren in seiner elementar-rohen Form, das Ellen seit Jugendtagen mit Lust und Tod verbindet.
Die junge Frau lebt mit ihrem Ehemann Thomas (Nicholas Hoult) in der fiktiven Kleinstadt Wisborg in Norddeutschland. Dort möchte sich auch der in Transsylvanien beheimatete Graf Orlok (Bill Skarsgård) ansiedeln, weshalb er den ortsansässigen Makler Knock (Simon McBurney) brieflich beauftragt, eine geeignete Immobilie für ihn zu suchen.
Zur Abwicklung des Geschäfts schickt der Makler, der von seinem adeligen Kunden regelrecht besessen scheint, seinen aufstrebenden jungen Mitarbeiter Thomas Hutter in die Karpaten. Hutter verspricht sich von dem Abenteuer ein gutes Geschäft und den Start in ein komfortables bürgerliches Leben an der Seite von Ellen. Je weiter ihn seine Reise an den Rand der abendländischen Welt führt, desto näher rücken der Aberglaube und die Ängste, die die Bewohner der unwirtlichen Landstriche plagen. Dass die Furcht berechtigt ist, erkennt der rationale Jungmakler erst, als es zu spät ist.
Mit den ersten Bildern wird deutlich, dass es Eggers mit seiner Neuinterpretation um mehr geht, als die altbekannte Geschichte noch einmal für die jüngere Generation aufzubereiten.
Auf dem Schloss angekommen, findet er sich erst als Gast, schnell aber als Gefangener des angsteinflößenden Grafen wieder, der nächtens damit beginnt, seinen Blutdurst an ihm zu stillen. Bald fürchtet Hutter nicht nur um sein Leben, bald ahnt er auch, dass seine Tätigkeit dazu führt, das Grauen nach Wisborg zu schaffen, wo seine attraktive Frau das eigentliche Objekt der Begierde des transsylvanischen Vampirs Nosferatu ist.
In Wisborg werden zur selben Zeit die nächtlichen Träume Ellens, in denen sie den großen Unbekannten halluziniert, immer plastischer. Zwar gelingt es ihrem Gatten, aus dem Schloss zu fliehen, aber verletzt und geschwächt muss Hutter sich zunächst von Nonnen wieder aufpäppeln lassen, bevor er seine Reise fortsetzen kann. Da ist Orlok auf einem Schiff voller Särge mit Heimaterde und Ratten schon auf dem Weg gen Norden.
Bram Stokers 1897 erschienener Roman »Dracula« gehört zu den am häufigsten verfilmten Stoffen der Filmgeschichte. Mit Robert Eggers’ »Nosferatu – Der Untote« kommt nun ein Remake in die Kinos, das sich explizit auf den von Friedrich Wilhelm Murnau geschaffenen Klassiker »Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens« (1922) bezieht. Dieser Film setzte Maßstäbe für das in dieser Zeit entstehende Schauer- und Horrorgenre.
Das Remake des US-amerikanischen Regisseurs übernimmt dann auch zahlreiche Änderungen, die Murnaus Drehbuchschreiber Henrik Galeen gegenüber dem Roman vorgenommen hatte: Da die Produktionsfirma die Rechte am Buch nicht kaufen wollte oder konnte, verlegte Galeen wesentliche Teile der Handlung von London ins fiktive Wisborg und benannte die Figuren um.
So heißt der 1922 von Max Schreck dargestellte ikonisch kahlköpfige Dämon mit den langen Klauenfingern, spitzen Ohren und Zähnen nicht Dracula, sondern Orlok, aus Jonathan Harker wurde Thomas Hutter und aus Mina Ellen. Dennoch handelt es sich in weiten Teilen um eine werkgetreue Verfilmung des Romans, was auch der Witwe Stokers nicht verborgen blieb. Sie ging gerichtlich gegen die Urheberrechtsverletzung vor und gewann den Streit.
Einer der Höhepunkte des Kinos der Weimarer Republik wie des Vampirfilms
Glücklicherweise war der Film bereits in viele Länder verkauft worden, so dass nicht alle Schnittfassungen und Kopien vernichtet werden konnten, wie es das von ihr erwirkte Urteil vorsah. Damit erlebte »Nosferatu« – angefangen bei den Surrealisten um André Breton – immer neue Wiederentdeckungen und gilt bis heute als einer der Höhepunkte des Kinos der Weimarer Republik wie des Vampirfilms.
Mit großer visueller Kraft überwindet der Film logische Brüche und nutzt wie wenig andere Filme die Schatten im Bildraum als Hort des im Titel beschworenen Grauens. In eingefärbten Schwarzweißbildern erzeugt er eine Atmosphäre, die alle Schrecken der Welt, die Menschen in nächtlicher Stunde den Schlaf rauben, spürbar macht – weitgehend, ohne sie explizit zeigen zu müssen.
Auch wenn immer wieder betont wird, dass es unmöglich ist, an die Klasse dieses Meisterwerks anzuschließen, ist Werner Herzog 1979 mit »Nosferatu – Phantom der Nacht« mit einem außerordentlich zurückgenommen agierenden Klaus Kinski eine so beachtenswerte wie eigenständige Variation zum Thema gelungen. Sie setzte im Umgang mit Farbe und Ton ebenso Akzente, wie sie die filmischen Ausdrucksmöglichkeiten für das Leiden an Einsamkeit und unstillbarem Verlangen erweiterte. 1992 hat Francis Ford Coppola mit seiner Interpretation des Stoffs in »Bram Stoker’s Dracula« eine weitere opulente Adaption mit großem Staraufgebot und visueller Raffinesse geliefert.
Detailversessen bei Ausstattung und Kostüm
Selbstverständlich weiß Eggers, der das Drehbuch zu seinem Remake selbst verfasst hat, um die Kraft und Bedeutung dieser Vorbilder. Lange hat der Regisseur sich für die Vorbereitung der Produktion, die 2015 erstmals angekündigt wurde, Zeit gelassen – wie es heißt nicht zuletzt, um seine handwerklichen Fähigkeiten, die er in Filmen wie »The Witch« (2015), »Der Leuchtturm« (2019) und »The Northman« (2022) bereits unter Beweis gestellt hat, für dieses Herzensprojekt weiter zu perfektionieren.
Mit den ersten Bildern wird deutlich, dass es ihm mit seiner Neuinterpretation um mehr geht, als die altbekannte Geschichte noch einmal für die jüngere Generation aufzubereiten. In stetig gleitenden Sequenzen von großer visueller Eleganz inszeniert Eggers den Stoff wie Murnau im Modus des (Alp-)Traums. Bei Ausstattung und Kostüm ist er detailversessen.
Dennoch spielt sich vieles in nächtlichem Dunkel ab, in dem wenige Lichtkanten die Konturen der Personen und Gegenstände markieren. Entsättigte Blau- und Brauntöne überwiegen, Rot wird für gezielt gesetzte blutige Akzente genutzt. Zum flirrenden Sounddesign gleitet die Kamera unaufhörlich, steigt auf, fährt auf schwarze Eingänge und Nischen zu, durchquert Erdreich, Häuserfronten und Rattengewusel, steht auch mal Kopf – ohne dies effekthascherisch auszustellen. Vielmehr erreicht die ständige Kamerabewegung, dass man sich ganz dem Strom der Bilder überlässt.
Antithese zu Coppolas Megalomanie
Bei der Darstellung des Monsters verzichtet Eggers auf die bekannten Merkmale der Vorlage. Ohnehin bleibt sein Graf die meiste Zeit über im Dämmer und mit der Dunkelheit verbunden. Wenn er sichtbar wird, dann etwa als Silhouette auf einer wehenden Gardine. Damit wählt Eggers – der immer wieder Motive wie die berühmten dem Vampir vorauseilenden Schatten zitiert – einen völlig anderen Ansatz als Coppola. Ließ dieser Gary Oldmans große darstellerischer Leistung durch Kostüme und Masken von dämonischer Opulenz immer wieder fast ins Lächerliche kippen und Dracula mitunter aussehen wie Montgomery Burns aus den »Simpsons«, steigert Eggers Orloks Wirkung, indem er ihn mehr beschwört als zeigt.
Mit der Wahl des klassischen 35-mm-Breitbilds, das gegenüber heutzutage üblichen Cinemascope-Formaten fast eng wirkt, erscheint »Nosferatu – Der Untote« gar wie die Antithese zu Coppolas Megalomanie. An Stelle von deren Beschwörung romantischer Liebe als Urgrund wie Lösung des Dramas tritt hier wie schon beim hochgelobten »The Witch« das Motiv der Angst des Patriarchats vor dem Sexuellen und Weiblichen als Triebfeder allen Verhängnisses.
Mit Willem Dafoe als von medizinischem Fortschritt und Alchemie gleichermaßen geprägtem Arzt und Strategen im Kampf gegen den Vampir führt Eggers’ atemberaubende Tour de Force sehr sinnlich vor Augen, dass die Aufklärung mit männlich-instrumenteller Vernunft die Welt zwar entzaubern, aber kaum retten kann. Die Angst vor Tod und Verlangen jedenfalls hat in jüngerer Vergangenheit kein Film derart eingängig auf die Leinwand und in die Köpfe des Publikums gebracht.
Nosferatu – Der Untote (USA 2024). Buch und Regie: Robert Eggers. Darsteller: Bill Skarsgård, Lily-Rose Depp, Nicholas Hoult, Willem Dafoe. Filmstart: 2. Januar