Das erfüllte Leben einer Ausnahmeturnerin
Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des Turnsports wurde am 9. Januar 1921 in Budapest als zweites Kind von Ferenc Klein, einem aufstrebenden jüdischen Fabrikbesitzer, geboren, der später den Familiennamen zu Keleti magyarisierte. Seine Tochter Ágnes hatte eine unbeschwerte Kindheit. Sie besuchte oft die Oper, hegte den Wunsch, Cellistin zu werden, unternahm mit der Familie häufig Wanderungen und spielte Tennis.
Schließlich wandte sie sich der Gymnastik zu. Ihre Laufbahn begann im jüdischen Fecht- und Leichtathletikverein, der bis heute existiert. Mit 16 gewann sie ihre ersten Medaillen bei den Landesmeisterschaften. Aufgrund ihres hohen Leistungsniveaus trat sie 1938 der Nationalen Turnvereinigung bei und wurde bereits im selben Jahr Mitglied der Nationalmannschaft.
Mit 31 Jahren, in einem Alter also, in dem andere Turnerinnen aufhören, begann Keletis außergewöhnliche Geschichte erst so richtig. Sie gewann in Helsinki ihre erste Goldmedaille am Boden, ihre Lieblingsdisziplin.
Durch das Aufkommen des Nationalsozialismus wurde der Antisemitismus auch in Ungarn schlimmer, das ab 1940 dem Bündnis der Achsenmächte angehörte. 1941 endete Keletis vielversprechende Karriere jäh: Eine Teamkollegin hatte sich beim Turnverband darüber beschwert, dass eine Jüdin in ihrer Gruppe sei. Keleti wurde gezwungen, den Verein zu verlassen, und durfte nicht mehr an Wettkämpfen teilnehmen. Aufgrund der diskriminierenden Gesetze, die Juden vom Studium ausschlossen, konnte sie sich auch nicht den Traum erfüllen, Chemikerin zu werden. Stattdessen entschied sie sich für eine Lehre als Kürschnerin – was später ihr Leben retten sollte.
Am 19. März 1944 besetzte die Wehrmacht das Land, Adolf Eichmann folgte ihr. Die Deportation der Juden begann. Von nun an ging es ums pure Überleben. Keleti überstand die Shoah, indem sie von ihrem letzten Ersparten die Papiere einer ihr ähnlich sehenden nichtjüdischen Frau kaufte. Fortan arbeitete sie als Piroska Juhász in einem kleinen Dorf unweit der ungarischen Hauptstadt bei einem Kürschner. Dessen Familie wusste von Keletis Herkunft, verriet sie aber nicht. Unterdessen wurden ihre Mutter und ihre Schwester vom schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg gerettet und schafften es außer Landes. Ihr Vater und der Rest der Verwandtschaft hatten kein solches Glück. Sie alle wurden im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.
Keletis Schlüssel zum Durchhalten wurde das Laufen, denn es hielt sie nicht nur körperlich fit, sondern stärkte auch ihren Willen.
Im April 1945 war der Krieg in Ungarn vorbei, doch Ágnes Keleti stand vor dem Nichts. Das Turnen und der Traum von Olympia halfen ihr, ihr Leben neu zu ordnen. Sie begann wieder mit voller Energie zu trainieren, gewann 1945 die ungarische Meisterschaft und galt zwei Jahre später als die Nummer eins der Turnauswahl. Im Alter von 27 Jahren qualifizierte sie sich 1948 für ihre ersten Olympischen Spiele. Allerdings konnte sie in London aufgrund einer Verletzung nicht antreten.
»Blutbad von Melbourne«
Vier Jahre später war die sich mit der Leichtigkeit einer Ballerina bewegende, zierliche Frau bereits 31 Jahre alt. Andere hören in diesem Alter auf, aber Keletis außergewöhnliche Geschichte begann jetzt erst so richtig. Sie gewann in Helsinki ihre erste Goldmedaille am Boden, ihrer Lieblingsdisziplin. Darüber hinaus erreichte sie den zweiten Platz im Mannschaftswettbewerb sowie jeweils eine Bronzemedaille am Stufenbarren und im Handgeräteturnen der Mannschaften.
Den Zenit ihrer Karriere erreichte die Turnerin 1956 in Melbourne, als sie ihren Titel im Bodenturnen verteidigen konnte und außerdem Goldmedaillen am Balken, am Stufenbarren und im Handgeräteturnen gewann. Im Einzel- und Mannschaftsmehrkampf belegte sie jeweils den zweiten Platz. Und als ob das nicht schon beeindruckend genug wäre, war sie zuvor auch noch Weltmeisterin am Stufenbarren und mit dem Handgeräteteam geworden. Ganze 46 Mal wurde sie überdies Landesmeisterin. Daneben schloss sie ihr Studium an der Budapester Hochschule für Leibeserziehung ab und war dort als Lehrkraft tätig.
Im Herbst 1956 kam es in Ungarn zum Aufstand gegen das realsozialistische Regime, der nach wenigen Wochen mit Unterstützung der sowjetischen Armee blutig niedergeschlagen wurde. Diese Nachricht erreichte die Olympiaauswahl während der Spiele in Australien. Die politische Konfrontation zwischen Ungarn und der UdSSR spiegelte sich damals auch in den Wettkämpfen wider. Das Viertelfinale im Wasserball zwischen den beiden Ländern wurde zu einer brutalen Schlacht im Schwimmbecken, das als »Blutbad von Melbourne« in die Sportgeschichte einging – zwei Minuten vor Spielende verpasste ein sowjetischer Spieler dem Ungarn Ervin Zádor mit einem Faustschlag ins Gesicht eine blutende Wunde.
Asyl in Australien
Aber auch in der Gymnastik der Frauen eskalierte die Rivalität. Während Keleti und ihre Eleven begeistert angefeuert wurden, buhten die Zuschauer ihre sowjetische Konkurrentin Larissa Latynina gnadenlos aus. Wie viele andere Athleten auch entschloss sich Keleti, nicht mehr nach Ungarn zurückzukehren. Sie beantragte Asyl in Australien, wo ihre Schwester wohnte. Kurze Zeit später konnte auch die Mutter zu ihnen stoßen.
Allerdings spielte Gymnastik in dem Land keine Rolle. Nach einem Jahr in Deutschland entschloss sich Ágnes Keleti zur Alija; ihre Liebe zum Turnen nahm sie mit nach Israel.
Sie bekam eine Stelle als Dozentin am Wingate Institute, der Sporthochschule in Netanya. Zusätzlich trainierte sie Turnerinnen – oder, wie sie es bescheiden zu sagen pflegte, half ihnen –, und das über einen Zeitraum von 22 Jahren. Viele ihrer Zöglinge wurden nationale Meister und nahmen an Olympia- oder Weltmeisterschaften teil. Auch absolvierte sie eine Ausbildung zur internationalen Schiedsrichterin. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs besuchte Keleti Ungarn immer häufiger und ließ sich schließlich in Budapest nieder. Trotz ihres hohen Alters ließ sie sich kein einziges Mal nehmen, beim Marsch der Lebenden dabei zu sein, dem alljährlichen Gedenkaufzug für die Opfer des Holocaust.
Grande Dame des Kunstturnens
Sowohl in der alten als auch in ihrer Wahlheimat war die Grande Dame des Kunstturnens ein Star, überaus angesehen und hochdekoriert. Sie wurde mit unzähligen Auszeichnungen geehrt, unter anderem mit dem Ehrentitel Achtbare Sportlerin der Ungarischen Volksrepublik (1954), der Mitgliedschaft in der Ruhmeshalle des jüdischen Sports (1981), dem Goldenen Ring des Ungarischen Olympischen Verbandes (1995), dem Ungarischen Verdienstorden mit Stern (2022) und dem Israel-Preis (2017).
Sie war Mitautorin eines Fachbuchs über Kunstturnen. 2002 erschien ihre Autobiographie »Die drei Leben einer Olympiasiegerin«, allerdings nur auf Ungarisch. Das Kinderbuch »Twist, Tumble, Triumph: The Story of Champion Gymnast Ágnes Keleti« soll ab Februar 2025 erhältlich sein. Es soll eine Inspiration für alle sein, die im Leben mit Hindernissen konfrontiert sind, und eine Erinnerung daran, dass der menschliche Geist selbst die schlimmsten Akte des Hasses überwinden kann.
Ihre mehr als 100 Jahre waren erfüllt von Energie und unbändiger Lebensfreude.
Bis zuletzt verfolgte Ágnes Keleti intensiv die großen Turnwettkämpfe im Fernsehen, manchmal sehr kritisch. »Was ist aus meinem geliebten Turnen geworden?« fragte sie unlängst während eines Interviews und fuhr verärgert fort: »Es ist völlig aus der Normalität herausgefallen! Heutzutage muss man als Eltern schon verrückt sein, wenn man seine Tochter im Sportverein zum Turnen anmeldet.« Damit meinte sie die Ausbeutung des Körpers durch intensivstes Training und technisch immer schwierigere Übungen. Auch bei ihr hat die sportliche Betätigung ihre Spuren hinterlassen. »Die unerträglichen Schmerzen erdrücken meine Lebenskraft«, klagte sie. Trotz des Alterns und der ständig kneifenden Gelenke sei sie noch vor wenigen Jahren jeden Tag schwimmen gegangen. Und mit 100 Jahren schaffte sie sogar noch den Spagat.
Ende Dezember wurde Ágnes Keleti mit Herz-Kreislauf-Problemen und einer Lungenentzündung in kritischem Zustand ins Krankenhaus eingeliefert. Eine Zeitlang schien es ihr besser zu gehen, doch am Ende gab ihr Körper den Kampf auf. »Am liebsten würde ich leise gehen, ohne es zu merken«, sagte sie einst. Wie sie es sich gewünscht hatte, ging sie still, ohne großes Leiden. Ihre mehr als 100 Jahre waren erfüllt von Energie und unbändiger Lebensfreude.
Die berühmte Sportlerin wurde an ihrem Geburtstag, dem 9. Januar, beigesetzt, viele Prominente begleiteten sie auf ihrem letzten Weg.