Der Junge aus der Bronx
So manche Karrieren in der Unterhaltungsindustrie wären ohne Hilfe im Hintergrund anders verlaufen. Man denke nur an Brian Epstein, dem kürzlich mit »Midas Man« ein filmisches Denkmal gesetzt wurde und der als gewiefter Manager die Beatles mit seinem Inszenierungsgespür eine unbedeutende Provinzband aus Liverpool zu einer der bedeutendsten und einflussreichsten Bands in der Popgeschichte machte. Die Karriere Greta Garbos wiederum wäre ohne den finnischen Regisseur Mauritz Stiller nicht denkbar, der Garbo in Schweden entdeckte, der gebürtigen Greta Lovisa Gustafsson ihren Leinwandnamen gab und sie nach Amerika brachte, wo sie schnell zu einem der glamourösesten und größten Filmstars des klassischen Hollywood-Kinos emporstieg.
Ähnliches lässt sich auch über den Einfluss des Produzenten Martin Bregman auf den Werdegang von Al Pacino sagen. Dieser machte sich zwar bereits als Schauspieler am Broadway einen Namen und gewann 1969 für »Does a Tiger Wear a Necktie?« einen Tony, aber es war Bregman, der ihm 1971 zu seiner ersten großen Filmrolle als jungen Fixer und Kleinkriminellen in »Panic at the Needle Park« verhalf. Bregman, der wie Pacino in der Bronx in New York City aufgewachsen war, kannte die richtigen Leute und wusste, welche Rollen für den einstigen Straßenjungen geeignet waren, der sich als Platzanweiser und Hausmeister über Wasser hielt und beizeiten in Hausgängen oder auf Theaterfluren schlief.
Pacino gehört zu einer Generation von Schauspielern, die ihren Anfang mit Marlon Brando nahm: »Er war der Einfluss. Die Macht. Der Ausgangspunkt.«
Neben seiner Rolle als Michael Corleone in »Der Pate« (1972; für Pacino einer »der wahren tragischen Helden«) sind es vor allem die von Bregman produzierten Polizei- und Gangsterfilme, die Pacinos Bild als lonesome cop (»Serpico«, 1973) oder durchgeknallter Gangsterboss (»Scarface«, 1983) verfestigten. Auf der Leinwand wandelt Al Pacino allzu oft durch jene ruchlosen und abseitigen Orte New York Citys, in denen law and order meist den Kürzeren ziehen. In seinen tiefbraunen Augen schimmert immer auch eine Schwermut hindurch, gepaart mit einer unstillbaren Sehnsucht.
Filme wie eben »Serpico«, »Hundstage« (1975), »Cruising« (1980), »Carlito’s Way« (1993) oder »Heat« (1995) sind auch eine Lehrstunde über Macht und Gewalt in den engen Hochhausschluchten US-amerikanischer Großstädte. Martin Bregmans großen Einfluss auf seine Karriere kommentiert der mittlerweile 84jährige Pacino in seinen kürzlich unter dem Titel »Sonny Boy« erschienenen Memoiren auf süffisante Art: »Marty sagte immer über mich: ›Wollt ihr einen Filmerfolg? Dann druckt einfach Al Pacino mit einer Knarre aufs Plakat.‹«
Gewalt und Drogenmissbrauch
Wenn Pacino in seinem Buch von seinen jungen Jahren im Ghetto der South Bronx erzählt, wird klar, warum Bregman den Abkömmling italienischer Einwanderer in jenen Rollen sah. Pacinos Eltern ließen sich früh scheiden, er lebte mit seiner Mutter (sie nannte ihn Sonny Boy nach dem gleichnamigen Song von Al Jolson) und seinen Großeltern in den beengten Verhältnissen eines ärmlichen Mietshauses. Sein zweites Zuhause waren das Kino und die Straßen der Bronx, auf denen er mit seiner Clique umherstreunte und wo er erstmals mit Gewalt und Drogenmissbrauch konfrontiert wurde.
Seiner Mutter, die viel zu früh starb, »an Pillen oder an Armut«, hat er zu danken, dass sie ihn »von dem Weg abgebracht hat, der zu Straftaten, Gefahr und Gewalt führte, zur Spritze, zu dieser tödlichen Wonne namens Heroin, die meine drei engsten Freunde umgebracht hat«. Die Mittelschullehrerin war es schließlich, die ihn ermutigte, Schauspieler zu werden. Eine Aufführung von Anton Tschechows »Die Möwe« im Elsmere Theatre in der Bronx war sein Erweckungserlebnis: »Tschechow wurde mir zum Freund.«
Dort, im Theater, liegen seine schauspielerischen Wurzeln. Es war seine Rolle als street punk in »The Indian Wants the Bronx« von Israel Horovitz, mit der er 1968 erstmals Aufmerksamkeit erregte. Die Arbeit am Off-Broadway-Stück führte zur kurzen, aber intensiven Zusammenarbeit und Freundschaft mit John Cazale (»Der Pate«, »Hundstage«), bevor dieser 1978 viel zu früh an Lungenkrebs starb. In Hollywood mit seinen oberflächlichen Gepflogenheiten und dem Glamour fühlt sich Pacino bis heute nicht wohl. Der Oscar-Verleihung 1973 blieb er trotz seiner Nominierung als bester Nebendarsteller in »Der Pate« fern, was ihm in der Branche viel Missgunst einbrachte. Fernsehinterviews scheut er nach wie vor.
Robert De Niro, Paul Newman und Lee Strasbergs Method Acting
Auch nachdem ihm dank seiner Rolle als Michael Corleone (sein Großvater stammte tatsächlich aus einem sizilianischen Ort gleichen Namens) sämtliche Türen Hollywoods offenstanden, dachte er nicht an eine Karriere im Film: »Ich sah meine Zukunft im Repertoiretheater. Diese Stücke hatten das Zeug, mein Leben zu verändern; diese Dramatiker waren Propheten.« Seine erste Arbeit als Regisseur mit dem Titel »Al Pacino’s Looking for Richard« (1996) widmete er William Shakespeare, neben Tschechow sein zweiter künstlerischer Fixpunkt.
Pacino gehört zu einer Generation von Schauspielern, die ihren Anfang mit Marlon Brando nahm: »Er war der Einfluss. Die Macht. Der Ausgangspunkt. Was er mit Leuten wie Tennessee Williams und Elia Kazan geschaffen hatte, ging tiefer. Es war bedrohlich. Brando war gemeinsam mit Montgomery Clift und James Dean zu einem Triumvirat von Schauspielern geworden.«
Alle drei hatten wie Al Pacino, Robert De Niro, Paul Newman oder Ellen Burstyn im Actors Studio unter der Leitung von Lee Strasberg studiert und werden bis heute dem Method Acting zugerechnet. Was dieses ganz genau ist, scheut sich Pacino zu beantworten. Auskunft gibt er an anderer Stelle: »Was Schauspieler als ihr Instrument bezeichnen, ist ihr gesamtes Sein: die ganze Person, der Körper, die Seele. Es ist das, worauf du spielst, es absorbiert Dinge und setzt sie frei. Und wenn ich das Gefühl habe, dass die Rolle passt, muss ich gar nichts tun, um meinem Instrument einen hübschen Klang zu entlocken.«
Keinerlei Missgunst gegenüber Kollegen
Erst mit Dustin Hoffmans Rolle in »Die Reifeprüfung« (1967) öffneten sich die Türen für Pacino und seine Kollegen: »Das Aufregende war für mich, einen Künstler dabei zu sehen, wie er etwas so gut machte, etwas Originäres, dem man anmerkte, dass es noch nie zuvor gemacht worden war.« Wenn Pacino über seine Schauspielkollegen, die Branche, die Regisseure und Weggefährten schreibt, äußert er keinerlei Missgunst. Es scheint, als hätte er nie Feinde gehabt, oder wenn doch, hat er mit diesen längst seinen Frieden gefunden.
Auffällig sind auch die wenigen, aber versöhnlich klingenden Sätze, die er seinen zahlreichen Beziehungen widmet. Er gibt kaum Einblick in seine heftige Alkoholsucht, die er nach dem frühen Tod seiner Mutter 1962 und mit dem viel zu schnellen Aufstieg zum Ruhm entwickelte. Neben Sätzen wie »Aber Gott im Himmel, das Trinken war für mich eine Lebenshaltung« erfährt man kaum mehr als seinen Entschluss, davon loszukommen.
Pacino spart nicht mit Anekdoten aus seiner Karriere. Paramount hätte ihn fast aus der Produktion von »Der Pate« geworfen, weil er nicht überzeugte. In solchen Fällen wusste er sich durchzuboxen: »Was mir an Intelligenz fehlt, mache ich durch Energie wett.« Beim Dreh von Michael Manns »Heat« konnten sich Robert De Niro und er entscheiden, welche der beiden Hauptrollen sie übernehmen wollten. Immer wieder setzte er sich dafür ein, als Schauspieler mehr künstlerisches Mitspracherecht zu bekommen. Wie beim Dreh von » … und Gerechtigkeit für alle« (1979), als er sich mit Regisseur Norman Jewison überwarf, bis eine in seinen Augen unfertige Szene schließlich neu gedreht wurde.
Mehr Nominierungen für die Goldene Himbeere als für einen Oscar
Mit dem rasanten Karriereaufstieg kamen auch große Flops. Für »Daddy! Daddy! Fünf Nervensägen und ein Vater« (1982), eine Komödie über zerrüttete Familienverhältnisse, erntete er viel Spott. Oder »Revolution« (1985), sein einziger Ausflug in das Western-Genre, der ihn für einige Jahre aus der Filmbranche katapultierte. Pacino entschied sich dennoch meist mit Bedacht für seine Filmrollen. Oft genug bedurfte es großer Überzeugungsarbeit wie bei »Der Pate II«.
Einen vernünftigen Bezug zum Geld hatte er nie. Zweimal ging er krachend pleite, hatte Schwierigkeiten mit dubiosen Finanzberatern und gab zeitweise 300.000 bis 400.000 Dollar im Monat aus. Über seine Fehltritte weiß er rückblickend zu lachen: »Ich bin nicht Schauspieler geworden, um Geld zu verdienen. Außer, wenn ich pleite war. Dann habe ich es für Geld gemacht. Sie wissen ja, dass ich öfter für die Goldene Himbeere nominiert wurde als für einen Oscar.«
Al Pacino, zweifellos einer der größten Hollywood-Stars unserer Zeit, blickt am Ende seiner Memoiren und seines Lebens mit Freude, aber auch mit leiser Wehmut auf seine Kindheit zurück. Wenn er sich dabei fragt, wie viel sein erst einjähriger Sohn – er wurde mit 83 noch Vater – später davon begreifen werde, dann möchte man sich nur allzu gern einen Film vorstellen über den kleinen Sonny Boy auf den abenteuerlichen Straßen der Bronx in den Nachkriegsjahren, wie eine New Yorker Version von Oliver Twist.
Al Pacino: Sonny Boy. Mein Leben. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Piper-Verlag, München 2024, 400 Seiten, 26 Euro