Neue und traditionelle Opposition
Die Repression gegen politische Oppositionelle in Aserbaidschan hat in den vergangenen Jahren neue Ausmaße erreicht. Derzeit beträgt die Zahl der politischen Gefangenen über 300. Der Präsident İlham Alijew, der vor über 20 Jahren seinen Vater, Heydar Alijew, an der Macht ablöste, geht vehement gegen die Opposition und unabhängige zivile Institutionen vor. Zuletzt kam es im November 2023 zu einer Welle von Verhaftungen kritischer Medienschaffender.
Im Zuge des zweiten Bergkarabach-Kriegs 2020 zeigte sich die Wirkung der seit 1993 anhaltenden militaristischen Propaganda des autoritären Alijew-Regimes. Beinahe die gesamte legale politische Opposition unterstützte wie auch die Zivilgesellschaft ausdrücklich die Kriegspolitik der Regierung. Dabei ist anzumerken, dass in Aserbaidschan Oppositionsparteien nur noch formal existieren und das Land de facto ein Einparteienstaat ist. Auch vermeintlich unabhängige zivile Institutionen sind oftmals mit regierungstreuen Leuten besetzt.
Die traditionelle Opposition hat sich seit 1993 über die Jahre hinweg immer wieder als wirkungslos erwiesen. Zu ihr gehören die Aserbaidschanische Kommunistische Partei und die Sozialdemokratische Partei Aserbaidschans, die ihre Aktivitäten über die neunziger Jahre hinaus eine Zeitlang fortsetzten. Während Letztere 2023 infolge des neuen Gesetzes über politische Parteien ihre Auflösung bekannt gab, ist die Kommunistische Partei seit 2005 nicht mehr im Parlament vertreten.
Seit es Alijew mit Hilfe der Strafverfolgungsbehörden 2005 gelang, eine »orangene Revolution« zu verhindern, geht das Regime immer repressiver gegen jedwede Opposition vor.
Die Nationale Unabhängigkeitspartei, die Volksfrontpartei und die Gleichheitspartei (Müsavat), die während der Herrschaft von Heydar Alijew die größten Oppositionsparteien des Landes waren, kommen derzeit, wie die meisten Oppositionsparteien, jeweils noch auf ein bis zwei Sitze im Parlament. Sie unterstützten die Liberalisierungs- und Privatisierungspolitik Alijews nach dem Kollaps der Sowjetunion, die eine weitgehende Deindustrialisierung zur Folge hatte, Hunderttausende von Menschen arbeitslos machte und eine Abwanderung nach Russland oder in westliche Länder auslöste.
Der erste Bergkarabach-Krieg von 1991 bis 1994 stärkte die nationalistisch-liberalen Parteien, welche antilinke und militaristische Positionen vertraten – wie auch die antisowjetische Bewegung von 1988, die auf dem Hauptplatz in Baku, dem Azadliq-Platz (vormals Lenin-Platz), gegen die Bergkarabach-Politik der sowjetischen Führung demonstrierten.
Seit der Präsidentschaftswahl 2003 und der Machtübernahme von İlham Alijew hat die Unterdrückung der Opposition weiter zugenommen, während durch steigende staatliche Erdöl- und Erdgaseinnahmen die Konzentration des Geldes in den Händen des Alijew-Clans voranschreitet. Und während die traditionellen Oppositionsparteien im Parlament immer schwächer vertreten sind, gibt es stattdessen vermehrt offiziell parteilose Kandidaten, die in Wahrheit aber Parteigänger der Regierungspartei Neues Aserbaidschan sind, deren Vorsitzender Ilham Alijew ist.
Kritisch über dem Krieg
Die breite Unterstützung für die militaristische Aggression Aserbaidschans zeigte sich nicht nur während des Kriegs im Jahr 2020, sondern auch während der Grenzkonflikte mit Armenien in den darauffolgenden Jahren sowie schließlich während der erneuten aserbaidschanischen Offensive im September 2023, die zur fast vollständigen Vertreibung der armenischen Bevölkerung und dem Ende der armenischen Republik Arzach in Bergkarabach führte.
Lediglich eine Handvoll Organisationen und Gruppen, vorrangig von Jugendlichen und jungen Erwachsenen getragen, äußerte sich kritisch über dem Krieg. Die Azerbaijani Leftist Youth beispielsweise, eine Gruppe linker und liberaler Jugendlicher, verbreitete 2020 eine Antikriegserklärung. Die weitgehend staatlich kontrollierten Medien berichteten daraufhin über die Gruppe, einige ihrer Mitglieder wurden vom Staatssicherheitsdienst vorgeladen.
Allerdings erschienen im September 2022, als Aserbaidschan mit heftigen Angriffen auf armenische Grenzorte den Konflikt erneut zu eskalieren drohte, in den aserbaidschanischen sozialen Medien ungewöhnlich viele Kommentare, die den Krieg ablehnten. Darüber hinaus äußerten mehrere oppositionelle Jugendgruppen Kritik. Die meisten von ihnen sind im Gefolge der Parlamentswahlen von 2005 und 2010 entstanden, aus Enttäuschung über das Versagen der traditionellen parteipolitischen Opposition, die gegen das Alijew-Regime und die Wahlfälschung nichts ausrichten konnte.
Seit es Alijew mit Hilfe der Strafverfolgungsbehörden 2005 gelang, eine »orangene Revolution« – 20.000 Menschen in Baku demonstrierten 2005 in Anlehnung an die Symbolfarbe der ukrainischen Proteste 2004 in Orange – zu verhindern, geht das Regime immer repressiver gegen jedwede Opposition vor. Deshalb entstand in der aserbaidschanischen Jugend ein anders ausgerichtetes Politikverständnis.
Selbstorganisierte linke Gruppen
Fernab von Parteien streben selbstorganisierte linke Gruppen eine Stärkung der Zivilgesellschaft an und thematisieren dabei verstärkt Menschen-, Frauen- und LGBT-Rechte. Zu diesen Gruppen gehören Jugendorganisationen wie Wave Youth (2005 gegründet), die 2011 gegründete Bürgerbewegung Nida, die demokratische und soziale Reformen anstrebt, sowie die Bewegung Demokratie 1918; dies war das Gründungsjahr der Demokratischen Republik Aserbaidschan, die 1920 der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik weichen musste.
Nida und Demokratie 1918 hatten unmittelbar nach der planmäßigen Eskalation des Konflikts mit Armenien 2022 den Einsatz militärischer Gewalt durch den aserbaidschanischen Staat an den Grenzen zum Nachbarland kritisiert und zum Frieden aufgerufen. Im darauffolgenden Jahr gab die Mitte-links-Bewegung Demokratie 1918, die dem studentischen und Arbeiterprotestmilieu zuzurechnen ist, nach zehnjährigem Bestehen ihre Auflösung bekannt. In einer Erklärung schrieb sie, dass aufgrund der neuen, noch autoritäreren Gesetze für politische Parteien und Medien eine unabhängige politische Tätigkeit im Land nicht mehr möglich sei. Anfang 2023 hatte Alijew ein Gesetz unterschrieben, dass Parteien zur Neuregistrierung zwingt und dabei einen Nachweis fordert, dass diese über mindestens 5.000 Mitglieder verfügen.
Aus der Bewegung wurden zwei Organisationen gegründet. Eine eher studentische und die Gewerkschaft Arbeitertisch, die eine vom Regime unabhängige gewerkschaftliche Organisation von Arbeitern und Arbeitskämpfen ermöglichen soll.
Der Vorsitzende der Gewerkschaft Arbeitertisch, Afiaddin Mammadov, befindet sich seit September 2023 in Untersuchungshaft. Die Gewerkschaft hatte 2023 Proteste von Kurieren des Lieferdiensts Wolt unterstützt. Mammadov wurde kurz nach einem Protest gegen die Beschlagnahmung von Fahrzeugen der Kuriere festgenommen. Vorgeworfen werden ihm bewaffneter Hooliganismus und vorsätzliche Körperverletzung, angeblich soll er einen nicht näher benannten Mann niedergestochen haben. Mammadov bestreitet dies. Bei einer Verurteilung drohen im bis zu elf Jahren Gefängnis.
Versuche, eine übergreifende Bewegung oder einen Dachverband zu gründen, scheiterten
Auch schon früher wurden Gründer und Anführer von oppositionellen Jugendbewegungen verhaftet, so wie beispielsweise 2013 sieben Mitglieder der Nida-Bewegung, angeblich wegen Besitzes von Waffen und Betäubungsmitteln. Die Angeklagten bestritten dies und sahen darin fabrizierte Vorwürfe, um ihre politischen Aktivitäten zu unterdrücken. 2014 wurden sie zu sechs- bis achtjährigen Haftstrafen verurteilt, allerdings waren alle sieben bis 2019 begnadigt worden.
2020, als die Covid-19-Pandemie die soziale Situation von Studenten verschlechterte und viele nicht mehr in der Lage waren, die Studiengebühren zu bezahlen, gründete die Demokratiebewegung 1918 den Studententisch. Zudem formierten sich zwei linke Studentenorganisationen, die Studentische Forderung und das Studentische Machtzentrum. Erstere stellte ihre Tätigkeit nach einem Jahr ein, Letztere nach vier Jahren. Die beiden Organisationen erreichten zusammen nie mehr als 100 Mitglieder. Trotzdem organisierten sie während der Pandemiezeit mit einigem Erfolg Proteste, über die in den Medien ausführlich berichtet wurde. Gleichzeitig ging die Polizei hart gegen die Protestierenden vor, die für fairere Examensbedingungen während der Pandemie und gegen die Repression protestierten, unter der politisch unliebsame Studenten zu leiden haben.
Versuche, die verschiedenen linken Gruppierungen zu einer übergreifenden Bewegung oder in einem Dachverband zu organisieren, scheiterten bisher. Dennoch besteht die Hoffnung, dass die neue Opposition besser als die alte in der Lage sein wird, das Alijew-Regime zu kritisieren und demokratische Veränderungen in der aserbaidschanischen Gesellschaft zu bewirken.