Bilder, die unter die Haut gehen
Mit dem renommierten Kunsthaus und anderen Museen verfügt Zürich über zahlreiche Orte der Hochkultur. Das kleine private Musée Visionnaire bietet dagegen Kreativen eine Plattform, die häufig übersehen werden und durch das Raster der gängigen Kunstkategorien fallen. Dazu zählen die sogenannte Outsider Art von psychisch Beeinträchtigten, aber auch ästhetische Ausdrucksformen diverser Subkulturen.
Derzeit fragt die Ausstellung »Ink« nach dem künstlerischen Wert des Tätowierens. Für die Branche wäre der Status als Kunst äußerst schmeichelhaft. Mit dem Aufkommen leicht handhabbarer und billiger Tätowiermaschinen ist das Monopol klassischer Studios gefallen, es floriert das fröhliche DIY-Tätowieren in Wohnzimmern und WG-Küchen. Eine Vielzahl von Talenten und Möchtegerns präsentiert sich auf Instagram, daneben existieren noch immer Studios anerkannter Meister und Meisterinnen, die auf eine Stammkundschaft zählen können.
»Wenn es dir gerade schlechtgeht und du dir ein Tattoo stechen lässt, auf dem ›Fuck love‹ steht, dann muss das in 20 Jahren nicht mehr aktuell sein. Aber 2024 war es eben wichtig.« Glace 3000
Die Welt der Tattoos ist bunt und vielfältig, nicht immer schön und selten künstlerisch wertvoll. In der Regel werden noch immer altbekannte Katalogmotive abgepaust, es herrscht die wahllose Aneignung von Symbolen vor, die aus dem Erbe von Subkulturen, Glaubensgemeinschaften oder außereuropäischen Gesellschaften stammen: die Weltkulturen als Deko-Shop. Sinnentleerte Tribals, Grusel- und Asia-Kitsch sind nach wie vor weitverbreitet, Eigenkreationen und freie Zeichnungen dagegen selten. Tattoos sind im Alltag längst salonfähig, fast schon Mainstream geworden.
Das Musée Visionnaire blickt zurück auf die Zeit, als Tattoos noch den Außenseitern der Gesellschaft vorbehalten waren. Einer, der dazu beigetragen hat, dass sich dies änderte, war Herbert Hoffmann. In einem Kriegsgefangenenlager in Riga freundete er sich mit einem lettischen Seemann an, dessen Tätowierung – ein von einem Dolch durchbohrtes Herz – ihn so faszinierte, dass er sich das Motiv später selbst stechen ließ. In den sechziger Jahren begann er damit, den Körperschmuck in der Mittelschicht populär zu machen. In seinem Studio auf St. Pauli hat Hoffmann sich auf der Haut zahlreicher Kunden verewigt, darunter waren Arbeiter, Soldaten, Nachtschwärmer und Touristen.
Pionierin auf dem Gebiet der Körperbemalung
Eine Pionierin auf dem Gebiet der Körperbemalung ist Susan Tütsch. Als eine der ersten Frauen in der Schweiz wagte sich die gelernte Floristin um 1992 in eine Branche vor, die damals von den Hells Angels und anderen Rockern dominiert wurde. Dass sie sich als Tätowiererin etablieren konnte, war alles andere als selbstverständlich.
Die Tattoo-Community, die zu Beginn der neunziger Jahre noch überschaubar war, hütete das Wissen über Material und Technik wie einen Schatz und wollte ihr Know-how ungern teilen. Die 52jährige Tütsch, die sich Susan Tattoo nennt, hat sämtliche Zeichnungen, die als Vorlagen für ihre Tattoos dienten, sorgsam aufbewahrt. Es müssen Hunderte sein, die sie in ihrer Wohnung direkt über dem Studio »World’s End Tattoo« gesammelt hat. All die Motive sind auf irgendeinem Rücken, Schulterblatt oder Knöchel in der Weltgeschichte unterwegs.
Der Schweizer Künstler Adrian Schär, der eigentlich großformatige Arbeiten auf Leinwand produziert, betätigt sich gelegentlich unter dem Namen Glace 3000 als Tätowierer. Stets bekommen seine Klienten ein einzigartiges Tattoo verpasst. Das Album mit den sogenannten Flashes – vorgezeichnete Motive, die eins zu eins auf die Haut übertragen werden – besteht aus Zeichnungen von Zimmerpalmen, Kaffeekannen, Bohrmaschinen und was Glace 3000 sonst noch so in den Sinn kommt.
Verkauft – und weg
Sobald ein Flash als Tattoo in die Haut des Kunden eingeschrieben ist, wird die Albumvorlage wie in einer Galerie mit einem kleinen Aufkleber markiert: »Was ein Pünktli hat, ist verkauft – und damit weg.« Ein zweites Tattoo mit demselben Motiv kommt nicht in Frage, schließlich schafft er als »echter« Künstler nur Unikate.
Glace 3000 verwendet den trendigen, bewusst dilettantischen ignorant style, der an Kinderzeichnungen erinnert. Überhaupt geht es bei seinen Tattoos nicht um die perfekte Ausführung, sondern eher um den Prozess und die Interaktion mit der Person, die ihm gegenübersitzt. Dass das Motiv dem Kunden für immer auf die Haut gebannt ist und diesem irgendwann vielleicht nicht mehr gefällt, sieht er entspannt: »Wenn es dir gerade schlechtgeht und du dir ein Tattoo stechen lässt, auf dem ›Fuck love‹ steht, dann muss das in 20 Jahren nicht mehr aktuell sein. Aber 2024 war es eben wichtig.«
Weitere Tätowiererinnen und Tätowierer schildern in der Ausstellung in Videos ihre Sichtweise auf das Metier und stellen Fragen nach dem Platz, die die Tattoo-Kunst zwischen Mainstream und Museum einnimmt. Eigentlich aber rennt das Musée Visionnaire mit seinem Plädoyer, den künstlerischen Wert von Tattoos anzuerkennen, offene Türen ein.
»Der Mann, der seine Haut verkaufte«
Bereits vor 20 Jahren führte der belgische Künstler Wim Delvoye das Tätowieren in die hochkulturelle Sphäre der zeitgenössischen Kunst ein. Auf einer Farm in China ließ er Schweine tätowieren, die er als Kunstwerke zum Kauf anbot. 2008 ging er noch weiter: Er fand einen jungen Schweizer, Tim Steiner, der sich von ihm ein großes Tattoo auf den Rücken stechen ließ, das er für 150.000 Euro an den Hamburger Kunstsammler Rik Reinking verkaufte. Dieser darf Steiner nun als Kunstobjekt ausstellen und den tätowierten Rücken sogar verkaufen und vererben.
Festgelegt wurde, dass im Fall von Steiners Tod sein Rücken gehäutet und das Tattoo eingerahmt wird. Mehrfach wurde der noch lebende Steiner bereits in Museen und auf Messen ausgestellt; der Fall diente als Inspiration für den Spielfilm »Der Mann, der seine Haut verkaufte«. Das Tattoo ist also längst in der hochkulturellen Sphäre der zeitgenössischen Kunst angekommen.
Auch auf der juristischen Ebene wurde das Tattoo inzwischen aufgewertet. Bisher war es üblich, Tätowierer nur dann als Bildende Künstler zu bezeichnen, »wenn sie mit ihren Arbeiten Aufmerksamkeit und Anerkennung über den eigenen Kundenkreis und über die Szene der Tätowierer hinaus erzielen«, so das Bundessozialgericht (BSG). Mittlerweile aber, so das BSG weiter, habe sich eine neue kreative Tätowierszene etabliert. Bei diesen Kreativen habe sich der Schwerpunkt von einer handwerklichen zu einer künstlerischen Betätigung entwickelt.
Das Tätowieren wird nach und nach aufgewertet und zur Kunst erklärt. Eigentlich merkwürdig: Wie andere ursprünglich subversive Genres und Kulturen in Musik, Mode und Street Art, die sich bewusst von der Gesellschaft, von Spießertum und Konformismus abgrenzten, wollen nun auch die Tattoo-Artists unbedingt zur Hochkultur zählen.
Im Sommer 2024 bescheinigte das Gericht einer Tätowiererin, dass ihre Aufnahme in die Künstlersozialkasse rechtmäßig sei. Sie gehöre zu jener Gruppe der Tätowierer, die künstlerisch ausgebildet oder als Künstler anerkannt seien. Erfüllt sein müsse allerdings noch ein Kriterium: »Motiv und Tätowierung bilden ein Gesamtkunstwerk und bleiben ein Unikat, das nicht weiter produziert und vermarktet wird.« Das Tätowieren als bloße technische Umsetzung, als bloßes Kopieren historischer Motive, Symbole, Logos oder Schriftzüge gilt hingegen nach wie vor nicht als Kunst.
Das Tätowieren wird nach und nach aufgewertet und zur Kunst erklärt. Eigentlich merkwürdig: Wie andere ursprünglich subversive Genres und Kulturen in Musik, Mode und Street Art, die sich bewusst von der Gesellschaft, von Spießertum und Konformismus abgrenzten, wollen nun auch die Tattoo-Artists unbedingt zur Hochkultur zählen. Egal wie rebellisch jemand mal war – das Prädikat »Kunst« ist immer begehrt.
Die Ausstellung »Ink« ist im Musée Visionnaire in Zürich noch bis zum 2. März zu sehen.