09.01.2025
Wenn die leere Zigarettenschachtel zum bloßen Ideologem erklärt wird

Du Ideologe!

Sprachkritik. Wie aus einem aufklärerischen Begriff ein Schimpfwort von Realitätsverweigerern geworden ist.

Den Begriffen geht es meist auch nicht viel besser als den Dingen. Je mehr und je achtloser sie gebraucht werden, desto mehr verlieren sie ihre Form und sind zu schlechter Letzt nicht mehr wiederzuerkennen.

»Du Ideologe« beispielsweise ist kein Seufzer mehr, wie er einst dem Frühaufklärer und Empiristen Francis Bacon bei der Lektüre eines spätscho­lastischen Traktats hätte entfahren können. Heutzutage ist dieser Anwurf auch auf dem Vorplatz des Bahnhofs in Berlin-Spandau geläufig. Dort rauchte eine Bekannte vor der Zugabfahrt ihre letzte Zigarette, als sie angeschnorrt wurde. Sie hatte nichts mehr anzubieten und deutete entschuldigend auf die zerknüllte Schachtel oben im Mülleimer, worauf der Enttäuschte sie mit den Worten »Du Ideologe« anraunzte.

Tatsächliche materielle Verhältnisse werden bei Nichtgefallen einfach zum Hirngespinst erklärt.

Man muss hinzufügen, es war die Zeit der ersten Covid-19-Impfungen, das hatte sicherlich Einfluss auf diese erstaunliche Beschimpfung; eine Zeit, in der nicht nur ein neues Virus grassierte, sondern auch die Rede von der Ideologie. Was wurde da über Corona-, Impf- oder generell Gesundheitsideologie schwadroniert, die sich bei den meisten, die das im Munde führten, zur Klima-, Globalisierungs- oder sonstweder Ideologie gesellten.

Kritik an Ideologien ist es da nicht mehr, die tatsächlichen materiellen Verhältnisse mit dem verzerrten Bild zu konfrontieren, das klassische Ideologien, also meist in sich anspruchsvolle Gedankengebäude, von ihnen zeichneten – nein, gerade umgekehrt werden tatsächliche materielle Verhältnisse bei Nichtgefallen zum Hirngespinst erklärt.

Aus den dunklen Kellern des Unbewussten

Vor diesem Hintergrund nimmt es auch weniger wunder, dass der erboste Schnorrer die leere Zigarettenschachtel zum bloßen Ideologem erklärte. Auch der, dem solche Art vermeintlicher Ideologiekritik fernliegt, sollte deshalb, statt jemand beziehungsweise dessen Äußerungen als ideologisch zu bezeichnen, Adjektive wie absurd, närrisch oder – wahrscheinlich angemessener– projektiv in Erwägung ziehen.

Ein Weiteres noch: Hat man es etwa mit wirrem Verschwörungsgegrunze zu tun, wäre es zu viel der Ehre, derlei als ideologisch zu bezeichnen. Denn Ideologie setzte voraus, sich überhaupt systematisch Gedanken zu machen und diese zu ordnen. Davon kann aber leider keine Rede mehr sein: Was da aus den dunklen Kellern des Unbewussten hervorbricht, verdient maximal die Bezeichnung Theorien – denn die können höchst infantil sein, wie man seit Freud spätestens weiß.