Proteste gegen den Autoritarismus
Um zu verstehen, was derzeit in Georgien geschieht, kann man zunächst nach Russland blicken. Und um zu verstehen, was in Russland geschieht, ist eine Sammlung von Artikeln von Karl Marx und Friedrich Engels ein guter Ausgangspunkt, die 1952, auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, unter dem Titel »The Russian Menace to Europe« (Die russische Bedrohung Europas) in den USA veröffentlicht wurde. In der Einleitung wird die These aufgestellt, »das Hauptziel« der russischen Außenpolitik sei die »Weltherrschaft«. Marx und Engels argumentierten, dass es keine Rolle spiele, wer Russland regiere – sei es wie zu ihrer Zeit der Zar, oder nach dessen Sturz jemand anders. Die Politik Russlands sei »stets gleich«, behaupteten sie.
Marx und Engels hätten im Kampf für Demokratie, der in den Straßen Georgiens tobt, wohl Widerstand gegen Russlands Bemühungen um die »Weltherrschaft« erkannt. Die von der Partei Georgischer Traum gestellte georgische Regierung beharrt darauf, dass es keine russische Beteiligung an der Politik des Landes gebe. Sie behauptet, dass es die EU und die USA seien, die versuchten, den zukünftigen Weg Georgiens zu bestimmen. Sie bezieht sich auf die Verschwörungstheorie einer imaginären »globalen Kriegspartei«, der die US-amerikanische Militärindustrie, George Soros und westliche Neokonservative angehören sollen und die sie als Feind der Georgier ansieht sowie beschuldigt, weltweit Revolutionen hervorzurufen und Pläne zu schmieden, auch Georgischer Traum von der Macht zu entfernen.
Die zerstrittene Opposition hat durch das Eingreifen der bisherigen Präsidentin Salome Surabischwili, die sich als Anführerin herausgestellt hat, an Stärke gewonnen.
Der Ton und letztlich auch der Inhalt dieser Botschaft weist eine starke Ähnlichkeit mit traditionellen antisemitischen Auffassungen auf; dabei ist Georgien ein Land, in dem Antisemitismus so gut wie keine Tradition hat. Die orthodoxe Kirche Georgiens spielt mit ihren fremdenfeindlichen, sexistischen und homophoben Ansichten eine wichtige Rolle bei der Abkehr des Landes von westlichen Staaten. Mit der Kirche verbundene rechtsextreme Schläger waren maßgeblich daran beteiligt, die Pride-Parade und andere LGBT-Veranstaltungen im Land zu blockieren.
Ungeachtet dessen, was die georgische Regierung sagt, sind die Versuche von Georgischer Traum, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, deutlich von Russland beeinflusst. Die Partei kam 2012 an die Macht und gruppiert sich um den Milliardär Bidsina Iwanischwili, der sein Vermögen in Russland gemacht hat. Ob Iwanischwili direkt Anweisungen des russischen Präsidenten entgegennimmt oder nur das tut, was diesem seiner Meinung nach gefällt, kann dahingestellt bleiben.
Wahlergebnis manipuliert
Im vergangenen Jahr hat die Regierung eine Reihe von Gesetzen verabschiedet – viele Georgier nennen sie »russische Gesetze« –, die erkennbar Putins Vorgehen imitieren, mit dem er in Russland die Zivilgesellschaft weitgehend zerschlagen und die Macht des Regimes ausgeweitet hat. Die Parlamentswahl Ende Oktober gewann Georgischer Traum mit staatlichen Angaben zufolge 53 Prozent der Stimmen.
Doch dieses Ergebnis zweifeln fast alle unparteiischen Beobachter an und betrachteten es als manipuliert. Viele Georgier gingen auf die Straße und forderten eine Wahlwiederholung. Ende November wurden die Proteste wiederaufgenommen, als die Regierung ankündigte, die Beitrittsgespräche mit der EU bis mindestens 2028 auszusetzen, und damit die Mehrheit der Georgier erzürnte, die auf eine Zukunft in der EU gehofft hatte.
Das neue Parlament, dessen Sitzungen von den Oppositionsparteien boykottiert werden, wählte den ehemaligen Fußballprofi Michail Kawelaschwili zum neuen Präsidenten, der Iwanischwili treu ergeben ist und am 29. Dezember sein Amt antrat. Die zerstrittene Opposition hat durch das Eingreifen der bisherigen Präsidentin Salome Surabischwili, die sich als Anführerin herausgestellt hat, an Stärke gewonnen. Surabischwili erkennt die Wahl Kawelaschwilis nicht an, besteht darauf, dass das Parlament nicht legitimiert sei, und fordert Neuwahlen. Hunderttausende Menschen haben in den vergangenen Wochen an Demonstrationen teilgenommen, die fast täglich stattfinden. Studenten spielen bei den Straßenprotesten eine wesentliche Rolle, die Arbeiterbewegung mit einigen Ausnahmen kaum. Wirtschaftsführer, darunter maßgebliche Bankiers des Landes, haben sich gegen Georgischer Traum ausgesprochen – zum Teil weil sie der Ansicht sind, dass die Abkehr vom Westen schlecht für das Geschäft sei.
Verhaftungen und Gewalt
Die Regierung reagiert mit Verhaftungen und Gewalt, die sich oft gegen Journalisten richtet. Für den weiteren Verlauf sind drei Szenarien denkbar. Erstens: Die Regierung könnte die Krise überstehen und auf unbestimmte Zeit an der Macht bleiben. Mit der Kontrolle über das Parlament, das Präsidialamt und die Gerichte hält sie die Macht immer fester in Händen, die freie Berichterstattung wird sukzessive unterdrückt. Kritik und Sanktionen aus dem Westen tragen wenig dazu bei, Partei und Regierung zu schwächen. Man könnte sich an Belarus orientieren. Es spielte keine Rolle, dass Diktator Aleksandr Lukaschenko die Wahlen im Jahr 2020 manipulierte, was zu starken Straßenprotesten führte. Er sperrte seine Gegner ein und zerschlug die Arbeiterbewegung – mit voller Unterstützung des Kreml.
Zweitens: Das Land könnte in einen regelrechten Bürgerkrieg abgleiten. Georgien hat eine von Gewalt geprägte Geschichte mit zwei Jahren blutigen Bürgerkriegs in den frühen neunziger Jahren. Dieser endete 1992 mit der Rückkehr Eduard Schewardnadses, des ehemaligen kommunistischen Parteichefs Georgiens, dann sowjetischen Außenministers unter Generalsekretär Michail Gorbatschow, an die Macht als Präsident Georgiens. Käme es erneut zu gewaltsamen Auseinandersetzungen in Georgien könnte das dazu führen, dass Russland dort »Friedenstruppen« einsetzen wird.
Im dritten Szenario triumphieren die demokratisch gesinnten Teile der georgischen Bevölkerung. Dafür gibt es einen Präzedenzfall: Im Jahr 2003 demonstrierten Tausende Georgier nach gefälschten Wahlen drei Wochen lang täglich, bis Schewardnadse zurücktrat. Die sogenannte Rosenrevolution brachte eine neue Regierung an die Macht. Eine weitere Revolution ist wahrscheinlich derzeit Georgiens Hoffnung, um Neuwahlen abzuhalten und auf den Pfad der Demokratie und der EU-Annäherung zurückzukehren. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen die demokratischen Kräfte die Massen, einschließlich der Arbeiterbewegung und der Linken. Ohne internationale Unterstützung sieht die Zukunft der demokratischen Opposition allerdings düster aus; mit Unterstützung hat sie eine Chance.