Der zweite Versuch
Paris. Schon wieder eine Regierung von Marine Le Pens Gnaden? Anfang Dezember stürzte in Frankreich das Minderheitskabinett des konservativ-liberalen Premierministers Michel Barnier. Es hing faktisch von der Tolerierung durch den rechtsextremen Rassemblement national (RN) in der Nationalversammlung ab, doch entzog die Partei von Marine Le Pen und Jordan Bardella ihr nach zwei Monaten die parlamentarische Unterstützung.
Präsident Emmanuel Macron setzte daraufhin am 13. Dezember den 73jährigen Christdemokraten François Bayrou als Premierminister ein. Am Vormittag des 23. Dezember, einige Stunden vor der Ernennung der Mitglieder des neuen Regierungskabinetts, äußerte sich der Regionalpräsident von Hauts-de-France, Xavier Bertrand, in den Medien. Der als moderater Konservativer geltende Politiker sagte, er habe es abgelehnt, in eine »mit dem Segen von Marine Le Pen gebildete Regierung« einzutreten.
Er war 2015 mit Unterstützung der Sozialistischen Partei in sein Amt gewählt worden, um einen möglichen Sieg des RN zu verhindern. Bertrand hatte die Rechtsaußenpartei wiederholt scharf kritisiert. Wahrscheinlich ist, dass er zunächst für den Posten des Justizministers vorgesehen war, dies aber an einem Veto Marine Le Pens scheiterte; Macron konsultierte die RN-Politikerin mehrmals telefonisch zur Kabinettsbildung. Dem Magazin L’Express zufolge wurde Bertrand dann ein weniger bedeutender Posten angeboten, den er ablehnte.
Die Besuche französischer Regierungspolitiker auf Mayotte haben die Wut der Inselbewohner angeheizt.
Bayrou ernannte zwei Politiker, die als Garanten einer Sicherheitspolitik mit im Zweifel harter Hand stehen sollen. Der erste ist Innenminister Bruno Retailleau, der bereits unter Barnier amtiert hat, der zweite Justizminister Gérald Darmanin. Er war von 2020 bis September vorigen Jahres Innenminister. Die traditionelle Spannung zwischen dem Innenministerium, das sich im Namen der ihm unterstellten Polizisten regelmäßig über eine zu langsame und zu weiche Justiz beklagt, und dem Justizministerium, das rechtsstaatliche Prozeduren verteidigt, wird dadurch beseitigt.
Denn Darmanin hatte während seiner Amtszeit, am 19. Mai 2021, umgeben von 40.000 Polizisten vor dem Gebäude der Nationalversammlung für deren Belange demonstriert; gefordert wurden unter anderem verbindliche Haftstrafen für Angriffe auf Polizeibeamte. Dem war die Tötung des Polizisten Éric Masson durch einen jungen Dealer – dieser wurde mittlerweile zu 30 Jahren Haft verurteilt – in Avignon vorausgegangen.
Problematisch war nicht nur, dass ein Mitglied der Exekutive auf diese Weise mindestens symbolisch, zusammen mit Angehörigen eines bewaffneten Staatsorgans, Druck auf die Legislative ausübte. Im kritischen Teil der Öffentlichkeit wurde auch aufmerksam registriert, dass Redner der weit rechts stehenden Polizeigewerkschaft Alliance in die Mikrophone Parolen wie »Das Problem der Polizei, das ist die Justiz« riefen. Retailleau dürfte nun vor allem an verschärften Ausländergesetzen arbeiten, die unter anderem den Zugang zu Sozialleistungen einschränken sollen.
Noch immer ist die Zahl der Todesopfer unklar
Bis zur Regierungserklärung Bayrous, die für den 14. Januar erwartet wird, hätten die kurz vor der Weihnachtspause ernannten Minister die Dinge theoretisch geruhsam angehen können. Doch die Wirbelsturmkatastrophe auf der zu Frankreich gehörenden, zwischen Madagaskar und Mosambik im Indischen Ozean gelegenen Inselgruppe Mayotte stellte das neue Kabinett schnell vor riesige Herausforderungen.
Der Wirbelsturm »Chido« traf Mayotte Mitte Dezember, noch immer ist die Zahl der Todesopfer unklar und umstritten. Die offizielle Bilanz beziffert sie auf 39, doch kursieren weit höhere Schätzungen. Die von Mayotte kommende Abgeordnete Estelle Youssouffa sprach sogar von »mutmaßlich 60.000«. Die tatsächliche Zahl dürfte wesentlich niedriger liegen, doch auf Mayotte leben über 100.000 Menschen in bidonvilles (Kanisterstädte) genannten Slums. Unter den zusammenbrechenden Wellblechhütten kamen zahlreiche Menschen zu Tode, die Überlebenden bestatteten sie nach muslimischem Ritus innerhalb von 24 Stunden. Oft handelte es sich um als illegal eingestufte Zuwanderer von anderen, nicht zu Frankreich gehörenden Inseln des Komoren-Archipels. Zahlreiche Lehrkräfte berichten, Dutzende ihrer Schüler seit Mitte Dezember nicht mehr gesehen zu haben.
Die Besuche französischer Regierungspolitiker auf Mayotte haben die Wut der Inselbewohner eher noch angeheizt. »Wenn dies nicht Frankreich wäre, würdet ihr noch zehntausendmal tiefer in der Scheiße stecken«, beschied Macron am 21. Dezember Einwohnern, die seinen Rücktritt gefordert hatten. Bildungsministerin Élisabeth Borne ließ am 30. Dezember zwei Lehrer, die sie in eine kritische Diskussion verwickelten, einfach stehen und entfernte sich wortlos. Am Sonntag räumte sie in einem Fernsehinterview ein, es »wäre besser gewesen, ihnen ›Auf Wiedersehen‹ zu sagen«.
Gegenpräsidentin Marine Le Pen
Wenig sensible Umgangsformen sind jedoch nicht der Hauptkritikpunkt. 84 Prozent der Bevölkerung Mayottes leben unter der Armutsgrenze, die prekären Wohnverhältnisse haben die Folgen der Katastrophe verschlimmert, die schlechte Infrastruktur erschwerte schnelle Hilfe.
Marine Le Pen, die auch international oft bereits wie eine Neben- oder Gegenpräsidentin auftritt, besuchte Mayotte vom Sonntag bis zum Dienstag dieser Woche. Dort kritisierte sie »die Mängel des Regierungsplans«, den Bayrou unter dem Titel »Mayotte debout« vorgestellt hatte – und stieß damit auf offene Ohren. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 2022 hatte Marine Le Pen auf Mayotte mit 43 Prozent die meisten Stimmen erhalten, weit mehr als der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon mit knapp 24 und Macron mit fast 17 Prozent, unter anderem wegen der auf Mayotte weit verbreiteten Ablehnung der Migration von den übrigen Komoren.
Ein Boot, das mit Marine Le Pen auf Mayotte unterwegs war, verunglückte am Dienstag. Mehrere Menschen wurden verletzt, die rechtsextreme Politikerin blieb unversehrt.