23.01.2025
Zum 100. Geburtstag von Eugen Gomringer

Eugen Gomringer und die Fassadenpoesie

Konkrete Poesie ist immer auch Gebrauchskunst, aus der sich Nutzen ziehen lässt. Der Dichter Eugen Gomringer, der in diesen Tagen seinen 100. Geburtstag gefeiert hat, wusste das. Auch deshalb sträuben sich seine Poeme dagegen, zum Dekor zu werden.

Für Diskussionsstoff sorgte Eugen Gomringer zuletzt 2017. Da warf der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin seinem 1951 entstandenen Gedicht »ciudad (avenidas)« vor, Frauen auf sexistische Weise herabzusetzen. Das auf Spanisch geschriebene Poem, das beispielhaft für das Verfahren der visuellen Konstellation ist, das Gomringers Auffassung Konkreter Poesie bestimmt, variiert in acht Zeilen die Worte avenidas (Alleen), flores (Blumen) und mujeres (Frauen), um mit der Zeile un admirador (ein Bewunderer) zu enden.

Bereits 2011, als die Hochschule Gomringer mit dem Alice-Salomon-Poetik-Preis auszeichnete, wurden die Lettern des Gedichts zu seinen Ehren an der Südfassade des Gebäudes angebracht. Erst sechs Jahre später erkannte der AStA, dessen Angehörige täglich an der Installation vorbeigingen, den vermeintlich frauenfeindlichen Gehalt. Nach jahrelangen Diskussionen erklärte sich die fränkische Gemeinde Rehau, wo Gomringer lebt, bereit, das Gedicht an der Fassade eines zentralen Gebäudes anzubringen.

Was es über Gomringers Dichtung aussagt, dass es überhaupt möglich war, das Gedicht an einer Häuserfassade auf- und wieder abzubauen, es an einer anderen Fassade zu reproduzieren und mit den Lettern wie mit transportablen Gegenständen umzugehen, fragte niemand. Darüber nachzudenken, hätte bedeutet, die Erkenntnis zuzulassen, dass das Gedicht die signifikativen Gehalte der in eine flächenhafte Form gebrachten Worte entleert, dass es also nicht von einem Bewunderer handelt, der Blumen und Frauen auf einer Allee betrachtet, sondern die entsprechenden vier spanischen Worte in eine graphische Konstellation bringt, die ihnen ihre Konnotationen zwar nicht nimmt, sie aber durch ihre statische Anordnung verblassen lässt.

Bei Gomringer treten Laut, Bild und Schrift in ein lebendiges Verhältnis zueinander, das in seiner latenten Komik mitunter die Schriftbild-Gedichte Christian Morgensterns in Erinnerung ruft.

Dieser Widerspruch zwischen dem Gestus der Sinndestruktion, der Zerstörung signifikativer Sprache und der Erstarrung in einem abstrakter Malerei verwandten dekorativen Ensemble wohnte der Konkreten Poesie von Beginn an inne. Ihr sprachkritisches, destruktives Moment kam seit den fünfziger Jahren vor allem in Österreich in der Lautdichtung von H. C. Artmann und Ernst Jandl zum Ausdruck, ihr restauratives Moment in den auf frühen kybernetischen Modellen der Computertechnik beruhenden Arbeiten von Max Bense. Beides, das experimentell-sprachkritische Moment und das der dekorativen Abstraktion, reflektieren die Epoche des Kalten Krieges in den postnazistischen deutschsprachigen Gesellschaften der fünfziger und frühen sechziger Jahre.

Die gelungene Synthesis von beidem findet sich im Werk von Helmut Heißenbüttel, der als Mitbegründer der Konkreten Poesie in der frühen Bundesrepublik, aber auch als Kenner der Werke von Arno Schmidt und James Joyce, die Tendenzen zur Destruktion und Restauration jener Zeit miteinander verband. Heißenbüttel verkörperte die eigentümliche Verbindung aus Kosmopolitismus und nationaler Beschränktheit, die für die Konkrete Poesie charakteristisch war.

Diese Verbindung prägt auch das Werk Gomringers. Am 20.Januar 1925 als Sohn des Schweizer Direktors einer Kautschukfabrik in Bolivien geboren, verbrachte er seine Kindheit und Jugend in der Schweiz, wo er bei seinen Großeltern aufwuchs. Er erwog eine Laufbahn beim Militär, studierte dann aber Kunstgeschichte und Nationalökonomie in Bern und Rom. 1953 rief er mit dem Aktionskünstler Dieter Roth und dem Graphiker Marcel Wyss die Zeitschrift Spirale ins Leben, die mit ihrer Verbindung von bildender Kunst, Schriftdesign und Lyrik eines der wichtigsten Publikationsorgane der Konkreten Poesie wurde.

Schon früh von Theodor W. Adorno kritisiert

Auch später hat Gomringer sich mindestens so sehr als ästhetischer Gestalter wie als Dichter verstanden. Zwischen 1966 und 1968 saß er für die Schweizer Sektion im Beirat des Documenta-Rates, ab 1977 lehrte er 13 Jahre lang Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf, das von ihm in Rehau gegründete Institut für Kon­struktive Kunst und Konkrete Poesie (IKKP) bildet ebenso wie seine Sammlung Konkreter Poesie, die heute im Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt zu sehen ist, die Vor- und Nachgeschichte Konkreter Poesie von der Weimarer Republik über die frühe Bundesrepublik bis zur Gegenwart ab, in der Spuren Konkreter Kunst in Lateinamerika fortleben.

In Bolivien gilt Gomringer geradezu als Nationaldichter, in Brasilien, wo die Konkrete Poesie sich in den fünfziger Jahren in der Auseinandersetzung mit europäischen Traditionen des Hermetismus Stéphane Mallarmés und Ezra Pounds herausgebildet hatte und in den Sechzigern während der Militärdiktatur als eine Art systemstabilisierender Avantgardismus fungierte, rekurrieren heute Graffiti- und Wandgemäldekünstler ebenso wie Werbedesigner auf deren Formensprache. Solche Beliebigkeit führt vor Augen, weshalb die Konkrete Poesie schon in der frühen Bundesrepublik, etwa von Theodor W. Adorno, der ein feines Gespür für die Allianz von Fortschritt und Epigonalität hatte, als restaurative Zerfallsform der Avantgarde kritisiert wurde.

»Konkret« nannte sich die Konkrete Poesie, weil sie statt der den Worten zugeschriebenen Bedeutungen das sprachliche Material selbst, die Sprache als sichtbare Schrift und hörbaren Laut, in den Mittelpunkt stellte. Gerade diese Bemühung um Konkretion, um Befreiung des sprachlichen Materials von der Bedeutung, führt jedoch nicht selten (wie schon in der ebenfalls von Adorno kritisierten Malerei etwa Piet Mondrians oder Wassily Kandinskys) zu einem Umschlag in schlechte Abstraktheit und leere Ornamentalität. Statt die Bedeutungsfunktion der Sprache in bestimmter Negation zu destruieren, wird sie suspendiert. Kritik des Sinns schlägt so um in abstrakte Ent-Sinnung, die wegen ihres dekorativen Charakters – Konkrete Poesie tendiert, wie schon in Pounds Ideogrammen, zum Bildlich-Gestalthaften, das Sprachlichkeit überdeckt – als sinnlich ansprechend goutiert werden kann.

Eugen Gomringer

Eugen Gomringer vor seinen Werken 1997 in München

Bild:
dpa / Sueddeutsche Zeitung

Bei Gomringer dagegen treten – ähnlich wie bei Artmann, Jandl und Gerhard Rühm – Laut, Bild und Schrift in ein lebendiges Verhältnis zueinander, das in seiner latenten Komik mitunter die Schriftbild-Gedichte Christian Morgensterns in Erinnerung ruft. Insofern hat Gomringer die Konkrete Poesie, die er mitbegründete, in seiner eigenen Arbeit überschritten.

Trotzdem wäre die Posse an der Alice-Salomon-Hochschule nicht möglich gewesen ohne die Brauchbarkeit seiner Lyrik als Fassadenpoesie: ohne die Möglichkeit, genuine Zeugnisse Konkreter Poesie als Buchstabendekoration zu verwenden und in architektonische Ensembles zu integrieren. Verfügten Gomringers studentische Kritiker auch nur über eine Spur jener ästhetischen Erfahrungsfähigkeit, die sie an der Hochschule ausbilden sollten, hätten sie über die Doppeldeutigkeit solcher Brauchbarkeit nachgedacht, statt sein Gedicht so aufzufassen, wie wahrgenommen zu werden es sich weigert: als signifikative Sprache. Hätten sie von Gomringer gelernt, hätten sie ihn anders, reflektiert und auf der Höhe ihres Gegenstandes, kritisieren können.

Gomringer, der dieser Tage seinen 100. Geburtstag feiert, wird das nicht stören, sein Werk lebt auch außerhalb von Hochschulen weiter: bei denjenigen, die an es anschließen, es ablehnen oder sich seiner bedienen. In ihrer triftigen Erscheinungsform war Konkrete Poesie immer Gebrauchskunst, sie erstarrt erst, wo kein Nutzen mehr aus ihr gezogen wird.